Keine Kürzung der Vorsteuern beim Leistungsempfänger: Und es geht noch weiter – steht dem Leistungsempfänger ein Reemtsma-Anspruch zu, dürfte der EuGH hieraus sogar schließen, dass bereits die Versagung des Vorsteuerabzugs beim Leistungsempfänger unzulässig ist. Das alles bestimmende Prinzip der Rechtsprechung des EuGH ist nämlich, dass die "richtige" neutrale Belastung der Steuerpflichtigen durch die Mehrwertsteuer hergestellt wird.[80] Das haben die Mitgliedstaaten möglichst effektiv unter Beachtung der mehrwertsteuerlichen Grundsätze sicherzustellen (insb. Grundsätze der Neutralität und der Effektivität[81]). Hieraus hat der EuGH u.a. gefolgert, dass die Rückgängigmachung eines Vorsteuerabzugs unzulässig ist, wenn dem Leistungsempfänger ein Reemtsma-Anspruch gegen die Finanzbehörde zusteht. Der Gerichtshof hielt es für offenkundig unangemessen, den Leistungsempfänger zu verpflichten, den Vorsteuerabzug zu berichtigen und anschließend von den Steuerbehörden die Erstattung der entrichteten Mehrwertsteuer einzuklagen.[82]

Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung müsste also das FG Münster, da dem Leistungsempfänger ein Reemtsma-Anspruch zusteht,[83] zu dem Ergebnis kommen, dass die Versagung des Vorsteuerabzugs durch das FA unzulässig war.

Entscheidung im Festsetzungsverfahren: Nach Ansicht des EuGH erfolgt also quasi eine "Saldierung" (Reemtsma-Anspruch gegen Vorsteuerkürzung[84]). Auch das spricht übrigens dafür, dass der Reemtsma-Anspruch nicht in einem separaten Billigkeitsverfahren geltend zu machen ist.[85] Diese "Saldierung" kann nämlich nur dann effektiv (d.h. rechtssicher) funktionieren, wenn die Vorsteuerkürzung und der Reemtsma-Anspruch im gleichen Verfahren geltend zu machen sind. Das wäre schon dann unmöglich, wenn der Leistungsempfänger – der nationalen Rechtsprechung folgend – allein einen Reemtsma-Antrag im Billigkeitsverfahren gestellt hätte, die Steuerfestsetzung (Kürzung des Vorsteuerabzugs) in ihrer Gestalt durch das FG-Urteil aber bestandskräftig geworden wäre.[86]

Da über die Vorsteuerkürzung (so viel steht fest) im Festsetzungsverfahren entschieden wird, muss also die "Saldierung" im Festsetzungsverfahren erfolgen. Das setzt voraus, dass auch der Reemtsma-Anspruch in diesem Verfahren geltend zu machen ist.

[80] S. auch von Streit, MwStR 2022, 302 (306). Vgl. jüngst z.B. EuGH v. 7.7.2022 – C-696/20 – B., UR 2022, 622 Rz. 54.
[81] Zu den Grundsätzen s. auch Sterzinger, UStB 2015, 193 (195).
[82] EuGH v. 31.5.2018 – C-660/16 und C-661/16 – Kollroß und Wirtl, UR 2018, 519 Rz. 67 f.; s. auch BFH v. 5.12.2018 – XI R 44/14, juris Rz. 77.
[83] S. vorstehend V.1.
[84] Also nicht – wie vom VII. Senat vorgeschlagen (s. oben I.2.b)) – die Versagung des Vorsteuerabzugs im Festsetzungsverfahren und die Gewährung des Vorsteuerabzugs (an Stelle des Reemtsma-Anspruchs) im Billigkeitsverfahren.
[85] S. oben I.2.b).
[86] Ob z.B. im vorliegenden Fall die Steuerfestsetzung bestandskräftig geworden ist, lässt sich aus den Sachverhaltsangaben nicht erkennen.

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