Rz. 271

[Autor/Stand] Nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ist strafbar, wer die FinB pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dadurch den Tatbestandserfolg herbeiführt. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ist also als Unterlassungstatbestand (s. Rz. 225) ausgestaltet. Das Merkmal der steuerlich erheblichen Tatsachen ist dabei wie in Abs. 1 Nr. 1 zu verstehen (s. Rz. 228 ff.). Zum Nichtausfüllen des Freitextfeldes bei Zugrundelegen einer abweichenden Rechtsauffassung bei elektronischer Abgabe der Steuerklärung s. Rz. 232. Zum Erfordernis der Unkenntnis der FinB, das sich in der Unterlassensvariante der Nr. 2 unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut ergibt, s. Rz. 575 ff. und 1101[2]. Die den Tatbestand ausschließende Kenntnis liegt nur vor, wenn der Verkürzungserfolg durch eigenes Tätigwerden der Behörde auf der Grundlage ihres Wissens tatsächlich vermieden werden kann[3]. Die Kenntnis der steuerlich erheblichen Tatsachen muss also so konkret und beweisbar sein, dass sie durch die FinB in einer Steuerfestsetzung (evtl. über eine Schätzung nach § 162 AO) umgesetzt werden kann (s. Rz. 575). Zum Erfolg der Steuerhinterziehung s. Rz. 400 ff. Zu Täterschaft und Teilnahme bei § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO s. Rz. 116 ff. Das Merkmal der "Pflichtwidrigkeit" war nach früherer Ansicht des BGH kein besonderes strafbarkeitsbegründendes persönliches Merkmal i.S.d. § 28 Abs. 1 StGB. Das hatte zur Folge, dass einem Teilnehmer (Gehilfen oder Anstifter) an der Unterlassungstat eines anderen nicht die obligatorische Strafmilderung dieser Vorschrift zugutekam (s. dazu Rz. 124 f.). Diese Auffassung hat der BGH zu Recht aufgegeben[4].

 

Rz. 272

[Autor/Stand] Die Tatbestandsalternative der Nr. 2 liegt dann vor, wenn durch pflichtwidriges Unterlassen ein Steuerverkürzungserfolg herbeigeführt wird. Ob man § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO deshalb als unechtes[6] oder als echtes[7] Unterlassungsdelikt bezeichnet, ist gleichgültig[8]. Eine solche Einteilung ist gesetzlich nicht vorgesehen und kann deshalb ohne weiteres auch keinerlei Konsequenzen für die Strafbarkeit oder Straflosigkeit eines Unterlassens haben. Die Formulierung des Tatbestands spricht formal für ein echtes Unterlassungsdelikt. Unstreitig ist andererseits aber auch, dass allein pflichtwidriges Unterlassen strafbar ist, also eine besondere rechtliche Handlungspflicht zur Abwendung des Erfolgs vorausgesetzt wird und nicht jedermann zum Tätigwerden verpflichtet ist (s. Rz. 87 f.). Das entspricht der Sache nach der Regelung des § 13 Abs. 1 StGB, der ebenfalls eine rechtliche Einstandspflicht dafür voraussetzt, dass ein strafrechtlich relevanter Erfolg nicht eintritt (sog. Garantenstellung oder -pflicht[9]).

Aus der bloßen Einordnung als echtes Unterlassungsdelikt folgt noch nicht die Unanwendbarkeit des § 13 StGB i.V.m. der Begehungsvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO (s. Rz. 221). Dass eine § 13 Abs. 2 StGB entsprechende Strafmilderungsmöglichkeit für die Unterlassensvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht greift, ergibt sich ebenfalls nicht aus der Einordnung als echtes Unterlassungsdelikt, sondern aus der Interpretation der Norm selbst, die eine solche Milderung im Vergleich zu Abs. 1 Nr. 1 gerade nicht vorsieht (s. dazu Rz. 223, 271)[10]. Auch für den Irrtum nach § 16 oder § 17 StGB ergeben sich aus der Einordnung keinerlei Folgen[11] (s. Rz. 690 f.). Zur Tatbestandsverwirklichung des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO durch Unterlassen i.V.m. § 13 StGB s. Rz. 221 ff.

 

Rz. 273– 287

[Autor/Stand] Einstweilen frei.

[Autor/Stand] Autor: Ransiek, Stand: 01.08.2023
[2] Vgl. dazu auch Grötsch in JJR9, § 370 AO Rz. 239; Peters in HHSp., § 370 AO Rz. 148 ff.
[3] Schott in Hüls/Reichling2, § 370 AO Rz. 148.
[4] BGH v. 23.10.2018 – 1 StR 454/17 Rz. 20, wistra 2019, 330 = wistra 2019, 422.
[Autor/Stand] Autor: Ransiek, Stand: 01.08.2023
[6] Vgl. allgemein BGH v. 6.5.1960 – 2 StR 65/60, BGHSt 14, 280 (281); RG v. 19.10.1911 – I 628/11, RGSt 45, 210 (213); Fischer70, Vor § 13 StGB Rz. 12 ff.; Weigend in LK13, § 13 Rz. 16; Roxin, Strafrecht AT II, § 31 Rz. 16 ff.; speziell zu § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO s. BGH v. 25.1.1995 – 5 StR 491/94, BGHSt 41, 1 = NJW 1995, 1764; BGH v. 7.11.2001 – 5 StR 395/01, BGHSt 47, 138 = wistra 2002, 762; OLG Hamm v. 2.8.2001 – 2 Ws 156/01, StV 2002, 83.
[7] Vgl. allg. Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT6, § 13 Rz. 8; Bosch in Schönke/Schröder30, Vor §§ 13 ff. StGB Rz. 137 m.w.N.; speziell zu § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO BGH v. 1.2.2007 – 5 StR 372/06, wistra 2007, 224 (226); BGH v. 22.5.2003 – 5 StR 520/02, wistra 2003, 344 = UR 2003, 535; BFH v. 29.11.2001 – II B 93/00, BFH/NV 2002, 554; bereits früher BFH v. 7.11.1973 – I R 92/72, BStBl. II 1974, 125.
[8] Zutr. Peters in HHSp., § 370 AO Rz. 137; Adick in Adick/Bülte2, Kap. 17 Rz. 41; Rolletschke in Graf/Jäger/Wittig2, § 370 AO Rz. 17.
[9] Zur Terminologie s. Ransiek, JuS 2010, 585 f. m.w.N.
[10] S. auch Peters in HHSp., § 370 AO Rz. 137, 169.
[11] Vgl. Ransiek, JuS 2010, 585 (586).
[Autor/Stand] Autor: Ransiek, Stand: 01.08.2023

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