Entscheidungsstichwort (Thema)

Zu den Formerfordernissen bei Steuerbescheiden

 

Leitsatz (NV)

1. Ein Verstoß gegen § 119 Abs. 3 AO 1977 führt nicht zur Nichtigkeit, sondern nur zur Anfechtbarkeit des Steuerverwaltungsakts.

2. Die für Steuerbescheide in § 157 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 vorgeschriebene Schriftform ist auch gewahrt, wenn dem Inhaltsadressaten zwar nur eine Kopie übersandt wird, sich aber aus handschriftlich angeführten Erläuterungen dazu mit hinreichender Deutlichkeit ergibt, daß die im übersandten Schriftstück enthaltene Regelung Gültigkeit haben soll.

 

Normenkette

AO 1977 § 118 S. 1, § 119 Abs. 3-4, § 124 Abs. 1 S. 2, §§ 125, 157 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

FG Berlin

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) hatte trotz wiederholter Aufforderung keine Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1982 abgegeben. Daher schätze der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) die Besteuerungsgrundlagen für den Kläger (sowie seine im Vorjahr mit ihm zusammen zur Einkommensteuer veranlagte Ehefrau) und setzte die Einkommensteuerschuld 1982 mit Bescheid vom 28. Januar 1985 auf 18 060 DM fest. Dieser maschinell erstellte, allein an den Kläger adressierte Bescheid ist lt. Postzustellungsurkunde (PZU) dem Kläger am 29. Januar 1985 zugestellt worden.

Weil Zweifel an der wirksamen Zustellung dieses Bescheids aufkamen, wiederholte das FA die Bekanntgabe auf folgende Weise: Es fertigte zwei Kopien der bei den Akten verbliebenen Durchschrift des Bescheides vom 28. Januar 1985, änderte jeweils handschriftlich (durch Streichung und Stempelung) das Datum in ,,11. Juni 1985", ferner - ebenfalls handschriftlich - die Anschrift in ,,Herrn und Frau A. X." (mit dem Zusatz ,,z. Hd. Herrn A.X." bzw. ,,z. Hd. Frau B.X.") und schließlich den Fälligkeitszeitpunkt für die errechnete Nachzahlung. Im übrigen blieb der Text der Vorlage - einschließlich des mitabgelichteten in großen, balkenartig und schräg gesetzten, fast über das gesamte Schriftstück reichenden Aufdrucks ,,Durchschrift" - unverändert.

Diese Kopien versah das FA handschriftlich jeweils in einer Anlage mit folgenden Erläuterungen:

,,Dieser Bescheid tritt an die Stelle des Einkommensteuerbescheides 1982 vom 28. 1. 85, welcher hiermit aufgehoben wird."

Die für den Kläger bestimmte Kopie nebst der Anlage dazu ist ihm mit PZU am 12. Juni 1985 zugestellt worden.

Den mit Schreiben vom 15. Juli 1985 am 18. Juli 1985 eingelegten Einspruch verwarf das FA als unzulässig (verspätet).

Die Klage hatte Erfolg: Das Finanzgericht (FG) hielt die am 12. Juni 1985 zugestellten Bescheide für nichtig und hob die Einspruchsentscheidung vom 12. September 1985 auf. Das FG begründete seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt: Die allein auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung gerichtete Klage sei zulässig. Das FA habe den Einspruch des Klägers zu Unrecht als unzulässig verworfen. Der Einkommensteuerbescheid vom 11. Juni 1985 sei nichtig. Er habe so wesentliche Änderungen enthalten, daß er nicht als formularmäßiger Bescheid i. S. des § 119 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO 1977) angesehen werden könne, und hätte daher gemäß § 119 Abs. 3 AO 1977 unterschrieben werden müssen. Dieser Mangel führe zwar nicht allein, wohl aber zusammen mit dem Umstand zur Nichtigkeit, daß es sich um eine Kopie mit dem Aufdruck ,,Durchschrift" gehandelt habe. Diese Häufung von Formfehlern sei auch durch die schriftliche Anlage zum Bescheid nicht geheilt worden.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung materiellen Rechts. Es ist der Meinung, das FG hätte die Klage als unbegründet abweisen müssen, weil verspätet Einspruch eingelegt worden sei. Zu Unrecht habe das FG den Einkommensteuerbescheid vom 11. Juni 1985 als nichtig angesehen. Die festgestellten Formmängel führten allenfalls zur Anfechtbarkeit.

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

I. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Zu Unrecht hat das FG den Einkommensteuerbescheid vom 11. Juni 1985 als nichtig angesehen und infolgedessen der Versäumung der Einspruchsfrist keine Bedeutung beigemessen.

Nichtig ist ein Verwaltungsakt nach § 125 Abs. 1 AO 1977, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Mangel leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Wann diese Voraussetzungen erfüllt sind, läßt sich (wie die unvollständige, beispielhafte Aufzählung in § 125 Abs. 2 AO 1977 einerseits und in § 125 Abs. 3 AO 1977 andererseits bestätigt) nicht generell, sondern nur von Fall zu Fall entscheiden (Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 30. November 1987 VIII B 3/87, BFHE 151, 354, BStBl II 1988, 183, m. w. N.). Dabei sind strenge Maßstäbe anzulegen (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 11. Februar 1966 VII CB 149.64, BVerwGE 23, 237, 238, und BFH in BFHE 151, 354, BStBl II 1988, 183). Ein Verwaltungsakt ist nicht schon deshalb nichtig, weil ihm die gesetzliche Grundlage fehlt oder weil er auf unrichtiger Rechtsanwendung beruht. Er verdient nur dann ausnahmsweise keine Beachtung (§ 124 Abs. 3 AO 1977), wenn er die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so erheblichen Maße verletzt, daß von niemandem erwartet werden kann, ihn als verbindlich anzuerkennen (vgl. u. a. BFH-Beschluß vom 1. Oktober 1981 IV B 13 /81, BFHE 134, 223, BStBl II 1982, 133, 135; BFH-Urteile vom 13. Mai 1987 II R 140/84, BFHE 150, 70, BStBl II 1987, 592, 593, und in BFHE 151, 354, BStBl II 1988, 183, 185).

Die vom FG festgestellten Mängel des Bescheids vom 11. Juni 1985 haben weder für sich allein gesehen noch zusammengenommen ein solches Gewicht, daß sie zur Nichtigkeit und damit zur Unwirksamkeit führten.

a) Es kann dahingestellt bleiben, ob die Rechtmäßigkeit des Bescheids nach § 119 Abs. 3 AO 1977 oder nach § 119 Abs. 4 AO 1977 zu beurteilen ist.

Gemäß § 119 Abs. 3 AO 1977 muß ein schriftlicher Verwaltungsakt die erlassende Behörde erkennen lassen und die Unterschrift oder die Namenswiedergabe des Behördenleiters, seines Vertreters oder seines Beauftragten enthalten. - Nach § 119 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 können bei einem schriftlichen Verwaltungsakt, der formularmäßig oder mit Hilfe automatischer Einrichtungen erlassen wird, abweichend von Absatz 3 Unterschrift und Namenswiedergabe fehlen.

Selbst wenn der Bescheid vom 11. Juni 1985 der strengeren Regelung des § 119 Abs. 3 AO 1977 unterfiele und deshalb hätte unterschrieben oder mit dem Namen eines bestimmten Beamten hätte versehen werden müssen, könnte das FG-Urteil keinen Bestand haben; denn ein Verstoß gegen diese Formvorschrift führt nicht zur Nichtigkeit, sondern nur zur Anfechtbarkeit (Umkehrschluß aus § 125 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977; ebenso Urteil vom 18. Juli 1985 VI R 41/81, BFHE 144, 240, BStBl II 1986, 169, m. w. N.).

b) Auch darin, daß das FA bei Erlaß des angefochtenen Bescheids eine Kopie mit dem Aufdruck ,,Durchschrift" verwendete, liegt kein besonders schwerer und offenkundiger Fehler i. S. des § 125 Abs. 1 AO 1977.

Zwar ist Schriftform für die Einkommensteuerbescheide gemäß § 157 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 zwingend vorgeschrieben. Das Gesetz sagt jedoch nicht, welche Anforderungen in diesem Zusammenhang an die Schriftlichkeit zu stellen sind und welche Rechtsfolgen die Nichtbeachtung auslöst. Beides richtet sich nach dem Zweck der Formvorschrift. Auch der ist nicht ohne weiteres erkennbar. Die amtliche Begründung spricht in diesem Zusammenhang von der ,,besonderen Bedeutung" des Steuerbescheides (BTDrucks VI/1982 S. 145). Diese besteht darin, ein bestimmtes Steuerrechtsverhältnis zur Verwirklichung der Steuergesetze zu konkretisieren und für das weitere Verfahren, auch für eine evtl. Vollstreckung unmißverständlich festzulegen (vgl. Gräber /von Groll, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., 1987, Rz. 7 ff. vor § 40). Angesichts der vielgestaltigen Sachverhalte, die im Steuerrecht zu regeln sind, der vielfach unübersichtlichen Rechtslage und der weitreichenden Folgen, die mit Steuerfestsetzungen verbunden sind, besteht insoweit ein besonders dringliches allgemeines Interesse an einer zuverlässigen Festlegung der Einzelfallregelung: Vom Wirksamwerden eines solchen Verwaltungsakts an (§ 124 Abs. 1 Satz 2 AO 1977) soll zwischen den Beteiligten keine Unklarheit mehr darüber bestehen, was wem gegenüber wie i. S. des § 118 Satz 1 AO 1977 geregelt ist (vgl. dazu auch Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl. 1988, § 157 AO 1977 Anm. 2, und Kühn /Kutter / Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., 1987, § 157 AO 1977 Anm. 2).

Ob die Schriftform dies gewährleistet, richtet sich nach dem Gesamteindruck des die Steuerfestsetzung verkörpernden Schriftstücks. In die an objektiven Kriterien auszurichtende und aus Empfängersicht vorzunehmende Wertung sind auch evtl. Anlagen einzubeziehen.

Diese Gesamtwürdigung, bei der - ebenso wie bei der Inhaltsbestimmung eines Verwaltungsakts durch Auslegung (vgl. dazu Gräber / Ruban, a.a.O., § 118 Rz. 18, m. w. N.) - keine revisionsrechtliche Bindung an die Feststellungen der Tatsacheninstanz besteht, führt im Streitfall dazu, daß der Bescheid vom 11. Juni 1985 der Schriftform genügt: Zweifel, die insoweit durch die Verwendung der Kopie und durch den mitabgelichteten Aufdruck ,,Durchschrift" hätten begründet werden und allein den Rechtsgeltungswillen des FA hätten betreffen können (vgl. BFH-Urteil vom 28. September 1984 III R 58/83, BFHE 142, 204, BStBl II 1985, 42; FG Düsseldorf, Urteil vom 11. September 1985 VIII 325/81 V, Entscheidungen der Finanzgerichte 1986, 55), sind durch die handschriftlichen ,,Erläuterungen" in der Anlage zum Bescheid mit hinreichender Deutlichkeit ausgeräumt worden. Darin hat das FA eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß der nunmehr zugestellte Bescheid allein anstelle des bisherigen gelten solle. Diese für den Rechtsgeltungswillen entscheidende Aussage ist - trotz fehlender Unterschrift (s. o.) - formgerecht und heilt evtl. sonstige Mängel des Schriftstücks.

2. Die Formfehler, die dem Bescheid vom 11. Juni 1985 anhaften, haben danach sein Wirksamwerden nicht hindern können. Der Kläger hätte daher rechtliche Einwände gegen diesen Verwaltungsakt im Rahmen eines rechtzeitig eingelegten Einspruchs geltend machen müssen (§ 124 Abs. 1 und Abs. 3, § 355 Abs. 1 AO 1977). Das ist hier nicht geschehen. Da auch Wiedereinsetzungsgründe nicht ersichtlich sind, hat das FA den Rechtsbehelf zu Recht als unzulässig verworfen (§ 358 AO 1977). Die gleichwohl erhobene Anfechtungsklage erweist sich somit als unbegründet und war daher abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO).

 

Fundstellen

BFH/NV 1990, 345

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