Wirksamkeit von nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ergangenen „Erstattungsbescheiden“
Hintergrund: Nichtigkeit von Steuerbescheiden nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens
Nach § 125 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Gemäß § 87 InsO, der über die Verweisung in § 251 Abs. 2 Satz 1 AO auch für das Besteuerungsverfahren zu beachten ist, können die Insolvenzgläubiger ihre Forderungen nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgen. Daraus hat der BFH in ständiger Rechtsprechung abgeleitet, dass Steuerbescheide nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mehr ergehen dürfen, wenn darin Insolvenzforderungen festgesetzt werden.
Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ergangener Steuerbescheid
Streitig ist u.a. die Wirksamkeit eines nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegenüber dem Insolvenzverwalter bekannt gegebenen Einkommensteuerbescheids. Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen des Herrn W. Dieser war im Streitjahr 2014 Alleingesellschafter und Geschäftsführer der M GmbH, die wiederum Alleingesellschafterin der K GmbH war. Im Dezember 2014 meldete die K GmbH Insolvenz an; das Insolvenzverfahren wurde im Februar 2015 eröffnet. Die im Dezember 2014 beantragte Eröffnung des Insolvenzverfahrens für die M GmbH wurde durch Beschluss im Februar 2015 mangels Masse abgelehnt.
Im August 2015 reichte der Kläger eine von ihm selbst sowie von W und dessen Ehefrau unterschriebene Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2014 beim Finanzamt (FA) ein. Das FA setzte die Einkommensteuer für 2014 mit Bescheid vom 23.12.2015 erklärungsgemäß in Höhe von 28.942 EUR fest. Unter Berücksichtigung einbehaltener Lohnsteuer sowie Kapitalertragsteuer ergab sich ein Erstattungsbetrag in Höhe von 2.454 EUR. Das FA gab den Bescheid u.a. dem Kläger bekannt.
Einspruch und Klage waren erfolglos
Mit seinem Einspruch machte Kläger geltend, das FA dürfe nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens keine (förmlichen) Bescheide mehr erlassen. Der Einspruch blieb erfolglos. Die anschließende Klage wies das FG als unbegründet ab.
Vorbringen des Klägers im Revisionsverfahren
Im Rahmen der von ihm eingelegten Revision vertritt der Kläger weiterhin die Auffassung, das FA dürfe nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens grundsätzlich keine Bescheide mehr erlassen. Gleichwohl erlassene Bescheide seien nichtig. Dies gelte für sämtliche Steuerfestsetzungen, ungeachtet der Frage, ob sich nach Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen und Vorauszahlungen eine Zahllast ergebe oder nicht.
Entscheidung: BFH weist die Revision als unbegründet zurück
Nach Auffassung des BFH ist der Bescheid nicht nichtig. Das FA war nicht aufgrund von § 251 Abs. 2 AO i.V.m. § 87 InsO gehindert, den Einkommensteuerbescheid zu erlassen.
Der BFH macht folgende Hinweise:
- Steuerbescheide dürfen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mehr ergehen, wenn darin Insolvenzforderungen festgesetzt werden.
- Ebenso dürfen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens keine Bescheide mehr erlassen werden, in denen Besteuerungsgrundlagen festgestellt werden, die die Höhe der zur Tabelle anzumeldenden Steuerforderungen beeinflussen könnten.
- Vielmehr ist der Steuergläubiger gehalten, Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nach Maßgabe des Insolvenzrechts zur Tabelle anzumelden, um an der gemeinschaftlichen Befriedigung im Insolvenzverfahren teilzunehmen. Ein förmlicher Steuerbescheid über einen Steueranspruch, der eine Insolvenzforderung betrifft, ist unwirksam.
- Dies gilt grundsätzlich nicht für Steuerbescheide, mit denen die Steuer auf 0 EUR festgesetzt wird. Mangels Steuerschuld fehlt es an einem Vermögensanspruch gegen die Insolvenzmasse, der zur Tabelle anzumelden wäre.
- Ebenso ausgenommen sind Umsatzsteuerbescheide, mit denen eine negative Steuer festgesetzt wird und aus denen sich keine Zahllast ergibt. Denn damit hat das FA keine Insolvenzforderung, die nach § 87 InsO nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgt werden kann, sondern einen Erstattungsbetrag festgesetzt, der nicht zur Tabelle anzumelden war.
- Ein vergleichbarer Fall liegt auch dann vor, wenn eine positive Steuer festgesetzt wird und sich – wie im Streitfall – eine Steuererstattung nur unter Berücksichtigung von Anrechnungsbeträgen ergibt (sog. „Erstattungsbescheide“). Denn damit hat das FA keine Insolvenzforderung festgesetzt, die nach § 87 InsO nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgt werden kann; der Erstattungsbetrag ist nicht zur Tabelle anzumelden. Das FA ist nicht Insolvenzgläubiger i.S. des § 87 InsO.
- Ebenso wenig hat der im Streitfall in Rede stehende Einkommensteuerbescheid Auswirkungen auf Folgebescheide; auch eine Verlustfeststellung nach § 10d Abs. 4 EStG erfolgt nicht. Es ist nicht erkennbar, wieso die Insolvenzmasse insofern schutzbedürftig sein soll. Derartige Steuerbescheide sind in Anbetracht der Schutzbedürfnisse im Insolvenzverfahren folglich nicht geeignet, die Gläubigerinteressen zu beinträchtigen.
- Anders als der Kläger meint, wird die Rechtsstellung des Insolvenzverwalters durch dieses Ergebnis nicht eingeschränkt. Begehrt er eine höhere Erstattung, kann er diese im Einspruchs- bzw. Klageverfahren gegen die Steuerfestsetzung geltend machen.
Hinweis: BMF wurde zum Verfahrensbeitritt aufgefordert
Vor Ergehen des Urteils hatte der BFH das BMF wegen der Komplexität der zu entscheidenden Fragen zum Verfahrensbeitritt aufgefordert.
BFH Urteil vom 05.04.2022 - IX R 27/18 (veröffentlicht am 11.08.2022)
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