Entscheidungsstichwort (Thema)

Anwendbarkeit des § 68 FGO bei Herabsetzung eines Verspätungszuschlags

 

Leitsatz (NV)

Der Kläger kann einen Bescheid, durch den der Verspätungszuschlag herabgesetzt wird, gemäß § 68 FGO zum Gegenstand eines anhängigen Klageverfahrens machen.

 

Normenkette

AO 1977 § 152; FGO §§ 68, 102

 

Verfahrensgang

Hessisches FG

 

Tatbestand

Die durch einen Steuerberater (den Prozeßbevollmächtigten) vertretenen Kläger und Revisionskläger (Kläger) gaben ihre Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1984 nach Ablauf der antragsgemäß bis zum 28. Februar 1986 verlängerten Frist am 3. Juli 1987 ab; der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) hatte zuvor Zwangsgelder in Höhe von ... DM und ... DM festgesetzt und ein weiteres Zwangsgeld in Höhe von ... DM angedroht.

Das FA setzte in dem erstmaligen Einkommensteuerbescheid mit der Einkommensteuer einen Verspätungszuschlag in Höhe von ... DM fest.

Im Laufe des gegen die Festsetzung des Verspätungszuschlags gerichteten Beschwerdeverfahrens setzte das FA in dem geänderten Einkommensteuerbescheid 1984 vom 4. Januar 1989 mit der Einkommensteuer den Verspätungszuschlag auf ... DM herab.

Die Beschwerde blieb erfolglos. Die Ober finanzdirektion (OFD) führte in der Beschwerdeentscheidung aus, daß der Verspätungszuschlag nach § 152 der Abgabenordnung (AO 1977) dem Grunde und der Höhe nach zu Recht festgesetzt worden sei.

Die Kläger machten mit ihrer Klage geltend, die Erwägungen der OFD seien ermessensfehlerhaft.

Während des Klageverfahrens erließ das FA am 3. März 1992 einen weiteren geänderten Einkommensteuerbescheid 1984, in dem es mit der Einkommensteuer den Verspätungszuschlag auf ... DM herabsetzte. Die Kläger beantragten gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO), den "geänderten Verwaltungsakt" zum Gegenstand des Verfahrens zu machen.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unzulässig ab. Es vertrat unter Hinweis auf sein in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1993, 92 veröffentlichtes Urteil vom 16. September 1992 9 K 2473/90 die Ansicht, die Klage sei mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Der bestandskräftige Verwaltungsakt vom 3. März 1992 habe den Verwaltungsakt vom 4. Januar 1989, der gemäß § 365 Abs. 3 AO 1977 Gegenstand des Beschwerdeverfahrens geworden sei (Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 20. September 1990 V R 85/85, BFHE 161, 492, BStBl II 1991, 2), endgültig suspendiert. § 68 FGO sei auf Ermessensentscheidungen nicht anwendbar.

Mit der vom FG zugelassenen Revision rügen die Kläger die Verletzung des § 68 FGO.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Die Klage war zulässig. Durch den Antrag der Kläger wurde der Verwaltungsakt vom 3. März 1992 Gegenstand des Verfahrens (§ 68 FGO).

a) Das FG hat zwar zutreffend angenommen, daß das FA in Ausübung des ihm eingeräumten Ermessens durch Verwaltungsakt vom 3. März 1992 den Verspätungs zuschlag herabgesetzt hat und eine solche Ermessensentscheidung einer eingeschränkten Prüfung des Gerichts unterliegt.

Der BFH hat mit Urteil vom 29. März 1979 V R 69/77 (BFHE 128, 17, BStBl II 1979, 641) entschieden, daß das FA nach einer Festsetzung des Verspätungszuschlags zu prüfen hat, in welchem Umfang die hierfür maßgebenden Gesichtspunkte bei einer Herabsetzung der Steuer in einem Änderungsbescheid noch gegeben sind; diese Prüfung erstreckt sich sowohl auf die Obergrenze von 10 v. H. der festgesetzten Steuer (§ 168 Abs. 2 Satz 1 der Reichsabgabenordnung; nunmehr § 152 Abs. 2 Satz 1 AO 1977) als auch auf die Ermessenskriterien (nunmehr in § 152 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 ausdrücklich benannt). Hiervon ausgehend hat der BFH mit Urteil in BFHE 161, 492, BStBl II 1991, 2 angenommen, der mit einer geänderten Steuerfestsetzung verbundene Hinweis auf das unveränderte Bestehenbleiben des bisher festgesetzten Verspätungszuschlags sei dahin zu verstehen, daß eine solche Überprüfung -- mit dem Ergebnis der Aufrechterhaltung -- stattgefunden habe. Dies gilt erst recht, wenn das FA bei der erforderlichen Ermessensüberprüfung -- wie im Streitfall -- zu dem Ergebnis kommt, daß der Verspätungszuschlag herabzusetzen ist. Die Herabsetzung des Verspätungszuschlags ist danach eine Ermessensentscheidung, die von den Steuergerichten nur in den von § 102 FGO gezogenen Grenzen überprüft werden kann (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 18. August 1988 V R 19/83, BFHE 154, 23, BStBl II 1988, 929).

b) Zu Unrecht hat das FG im vorliegenden Klageverfahren wegen der durch § 102 FGO eingeschränkten Überprüfung der Verwaltungsentscheidung den Antrag nach § 68 FGO als unzulässig angesehen.

Wird der angefochtene Verwaltungsakt nach Klageerhebung durch einen anderen Verwaltungsakt geändert oder ersetzt, so wird dieser auf Antrag des Klägers Gegenstand des Verfahrens (§ 68 FGO in der bis 31. Dezember 1992 gültigen Fassung).

aa) Nach Wortlaut, Sinn und Zweck der Vorschrift sind diese Voraussetzungen im Streitfall erfüllt.

Die in dieser Vorschrift verwendeten Begriffe "ändern" und "ersetzen" sind weit auszulegen. Entscheidend ist, daß beide Verwaltungsakte "dieselbe Steuersache" betreffen (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 17. April 1991 II R 142/87, BFHE 164, 11, BStBl II 1991, 527, und vom 17. September 1992 V R 17/86, BFH/NV 1993, 279, jeweils m. w. N.). Es ist insbesondere unerheblich, daß der angefochtene Verwaltungsakt den Korrekturvorschriften der §§ 130 f. AO 1977 unterliegt (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 24. Juli 1984 VII R 122/80, BFHE 141, 470, BStBl II 1984, 791 unter II.2. c, und vom 21. Januar 1993 V R 55/89, BFH/NV 1994, 42). Dementsprechend hat der BFH mit Urteil in BFHE 161, 492, BStBl II 1991, 2 entschieden, die unveränderte Aufrechterhaltung des bisher festgesetzten Verspätungszuschlags führe als Ersetzung der bisherigen Festsetzung dazu, daß der neue Verwaltungsakt ohne erneute Einlegung eines Rechtsbehelfs Gegenstand des Rechtsbehelfsverfahrens werde (nunmehr § 365 Abs. 3 AO 1977 in der ab 1. Januar 1987 geltenden Fassung). Eine solche "Ersetzung" genügt auch nach dem Wortlaut des § 68 FGO. Wird der Verspätungszuschlag herabgesetzt, zwingt die bei einer Herabsetzung der Steuer gebotene Ermessensüberprüfung auch in diesem Fall zu der Annahme, daß die angefochtene Festsetzung des Verspätungszuschlags ersetzt wird. Eine bloße Teilrücknahme (§ 130 Abs. 1 AO 1977), die den Bestand des angefochtenen Verwaltungsakts in dem von der Teilrücknahme nicht betroffenen Umfang nicht berühren würde (§ 124 Abs. 2 AO 1977), liegt demnach nicht vor.

Die in § 68 FGO enthaltene Regelung ist die Konsequenz daraus, daß das finanzgerichtliche Verfahren ein -- vom Verwaltungsverfahren losgelöstes -- reines Rechtsschutzverfahren darstellt. Das FA behält auch während der Anhängigkeit eines Finanzprozesses die Befugnis, den angefochtenen Verwaltungsakt zu ersetzen (§ 132 AO 1977; vgl. auch § 77 Abs. 3 FGO). Mit dieser einseitigen Befugnis des FA korrespondiert das Recht des Klägers, durch einen Antrag einen ersetzenden Verwaltungsakt zum Gegenstand des Verfahrens zu machen, sofern er ihn nicht selbständig anfechten will. § 68 FGO dient damit der Vereinfachung und soll dem Kläger nach Möglichkeit ein weiteres Rechtsbehelfsverfahren ersparen. Zugleich soll die Vorschrift -- ebenso wie § 365 Abs. 3 AO 1977 für das Rechtsbehelfsverfahren -- verhindern, daß das FA den Steuerpflichtigen gegen seinen Willen aus einem Klageverfahren drängt (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 16. September 1986 IX R 61/81, BFHE 148, 104, BStBl II 1987, 435; vom 24. Mai 1991 III R 105/89, BFHE 165, 345, BStBl II 1992, 123, und vom 5. Mai 1992 IX R 9/87, BFHE 168, 213, BStBl II 1992, 1040).

bb) Eine § 68 FGO einschränkende Auslegung ist nach diesem Sinn und Zweck der Vorschrift nicht gerechtfertigt. Etwas anderes ergibt sich auch -- entgegen der Ansicht des FG -- nicht aus § 102 FGO. Für die nach dieser Vorschrift vorzunehmende gerichtliche Ermessensüberprüfung ist zwar die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgebend (ständige Rechtsprechung des BFH, z. B. Urteil vom 26. März 1991 VII R 66/90, BFHE 164, 7, BStBl II 1991, 545). Die der Prüfung des FG unterliegende letzte Verwaltungsentscheidung kann aber auch eine im Verlaufe des Klageverfahrens ergangene und gemäß § 68 FGO Verfahrensgegenstand gewordene Ermessensentscheidung sein (in diesem Sinne z. B. BFH- Urteil vom 26. November 1986 I R 256/83, BFH/NV 1988, 82). Das FG hat in einem solchen Fall zu beurteilen, ob die im Zusammenhang mit dieser neuen Verwaltungsentscheidung deutlich werdenden Ermessenserwägungen des FA i. S. von § 102 FGO der gerichtlichen Überprüfung standhalten. Dem Steuerpflichtigen geht hierdurch keine Beschwerdeinstanz verloren; denn es obliegt seiner Entscheidung, ob er den Antrag nach § 68 FGO stellt oder nicht (vgl. BFH-Urteil vom 31. Oktober 1990 II R 45/88, BFHE 162, 215, BStBl II 1991, 102 m. w. N.).

2. Das FG ist von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen. Die Vorentscheidung ist deshalb aufzuheben.

Die Sache ist nicht spruchreif und deshalb zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

a) Das FG hat -- aus seiner Sicht zu Recht -- keine Tatsachen festgestellt, die dem Senat eine abschließende Beurteilung ermöglichen, ob der Verwaltungsakt vom 3. März 1992 rechtmäßig ist. Die vom FG in Bezug genommenen Verwaltungsakte des FA und die Beschwerdeentscheidung der OFD erlauben eine solche Beurteilung schon deshalb nicht, weil die tatsächlichen Verhältnisse maßgebend sind, die der Behörde im Zeitpunkt der letzten Ermessensausübung bekannt waren oder bekannt sein mußten (BFH-Urteil in BFHE 164, 7, BStBl II 1991, 545, 546). Soweit hiernach auch das Vorbringen der Beteiligten im Klageverfahren von Bedeutung ist, konnten die -- nicht nur ergänzenden -- Bezugnahmen des FG auf die Schriftsätze der Beteiligten die fehlenden tatsächlichen Feststellungen nicht ersetzen (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 1. März 1988 VII R 71/85, BFH/NV 1989, 65 unter 2. m. w. N.).

b) Der Verwaltungsakt vom 3. März 1992, durch den der Verspätungszuschlag -- ebenso wie in den vorangegangenen Verwaltungsakten des FA -- auf rund 9 v. H. der festgesetzten Steuer festgesetzt wurde, enthält keine schriftliche Begründung (§ 121 Abs. 1 AO 1977). Das FG wird u. a zu prüfen haben, ob es -- etwa wegen der Ausführungen der OFD in der Beschwerdeentscheidung oder der Ausführungen des FA im Klageverfahren -- einer schriftlichen Begründung nicht bedurfte (§ 121 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977) und die linear proportionale Herabsetzung des Verspätungszuschlags im Streitfall der Prüfung standhält (vgl. hierzu BFH-Urteil in BFHE 128, 17, BStBl II 1979, 641).

 

Fundstellen

Haufe-Index 420229

BFH/NV 1995, 520

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge