Entscheidungsstichwort (Thema)

Antrag nach § 68 FGO bei Klage gegen die Festsetzung eines Verspätungszuschlags - Auslegung des § 68 FGO - Gerichtliche Überprüfung einer behördlichen Ermessensentscheidung - Überbesetzung des VI. Senats des BFH

 

Leitsatz (amtlich)

Der einem geänderten Einkommensteuerbescheid beigefügte Hinweis des FA, daß der bisher festgesetzte Verspätungszuschlag unverändert bestehen bleibe, ist ein Verwaltungsakt (Anschluß an BFH-Urteil vom 20. September 1990 V R 85/85, BFHE 161, 492, BStBl II 1991, 2). Der Steuerpflichtige kann diesen Bescheid mit der Beschwerde anfechten oder gemäß § 68 FGO zum Gegenstand eines anhängigen Klageverfahrens machen.

 

Orientierungssatz

1. Die in § 68 FGO verwendeten Begriffe "ändern" und "ersetzen" sind weit auszulegen. Entscheidend ist, daß beide Verwaltungsakte "dieselbe Steuersache" betreffen (vgl. BFH-Rechtsprechung, auch zum Zweck des § 68 FGO).

2. Der Antrag nach § 68 FGO ist auch dann zulässig, wenn ein den Korrekturvorschriften der §§ 130 ff. AO 1977 unterliegender und mit der Beschwerde anfechtbarer Verwaltungsakt betroffen ist. § 102 FGO steht dem nicht entgegen. Für die gerichtliche Überprüfung einer behördlichen Ermessensentscheidung ist zwar die Sachlage und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgebend; diese kann aber auch eine im Verlaufe des Klageverfahrens ergangene und gemäß § 68 FGO zum Verfahrensgegenstand gewordene Ermessensentscheidung der Verwaltung sein (vgl. BFH-Rechtsprechung).

3. Eine "schematische Überbesetzung" des VI. Senats des BFH mit einem Richter mehr als der gesetzlichen Mindestzahl von fünf ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (Hinweis auf die gleichermaßen für die Überbesetzung des VI. Senats geltenden Ausführungen des II. Senats im Urteil vom 11.12.1991 II R 49/89 und des VIII. Senats im Beschluß vom 29.1.1992 VIII K 4/91).

 

Normenkette

AO 1977 § 152 Abs. 1-2; FGO §§ 68, 102; GVG § 21g Abs. 2; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; AO 1977 § 349; FGO §§ 4, 10 Abs. 3

 

Verfahrensgang

Hessisches FG (Entscheidung vom 16.09.1992; Aktenzeichen 9 K 2473/90)

 

Tatbestand

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) setzte durch Bescheid vom 3. März 1987 gegenüber dem Kläger und Revisionskläger (Kläger) wegen verspäteter Abgabe der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1985 einen Verspätungszuschlag in Höhe von 100 DM fest. Die Einkommensteuerveranlagung hatte zu einer Steuerfestsetzung in Höhe von 8 448 DM und --nach Anrechnung von Lohnsteuerabzugsbeträgen-- zu einer Erstattung in Höhe von 1 087 DM geführt. Im Verlaufe des gegen die Festsetzung eines Verspätungszuschlages gerichteten Beschwerdeverfahrens ergingen am 14. Oktober 1987 und am 9. Oktober 1989 das Streitjahr betreffende geänderte Einkommensteuerbescheide. Die Steuerfestsetzung verminderte sich dadurch auf 7 820 DM bzw. 6 660 DM. Hinsichtlich des Verspätungszuschlages enthalten die Bescheide jeweils den Hinweis: "Der bisher auf 100 DM festgesetzte Verspätungszuschlag bleibt unverändert bestehen."

Die Oberfinanzdirektion (OFD) wies die Beschwerde des Klägers gegen die Festsetzung eines Verspätungszuschlags durch Beschwerdeentscheidung vom 19. April 1990 als unbegründet zurück. Im Verlaufe des hiergegen gerichteten Klageverfahrens erließ das FA am 11. Mai 1992 für das Streitjahr wiederum einen geänderten Einkommensteuerbescheid; in diesem setzte es die Steuer auf 5 892 DM herab. Der Bescheid enthält in der Rubrik "A. Festsetzung" u.a. den Hinweis, daß der bisher auf 100 DM festgesetzte Verspätungszuschlag unverändert bestehen bleibe.

Mit Schriftsatz vom 9. Juni 1992 stellte der Bevollmächtigte des Klägers den Antrag, in dem Rechtsstreit des Klägers gegen das FA wegen "Einkommensteuer/Lohnsteuerjahresausgleich 1985" den Änderungsbescheid vom 11. Mai 1992 nach § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens zu machen.

Durch gerichtliche Verfügung vom 7. August 1992 wies der Berichterstatter im Klageverfahren wegen Verspätungszuschlags zur Einkommensteuer 1985 darauf hin, daß nach seiner Ansicht die --gegen die ursprünglichen Bescheide gerichtete-- Klage wegen des im Verlaufe des Klageverfahrens ergangenen weiteren Bescheides unzulässig geworden sei. Der Kläger machte demgegenüber durch Schriftsatz vom 12. August 1992 geltend, daß für das Streitjahr ein separates Klageverfahren zur Einkommensteuer 1985 anhängig sei. In diesem Verfahren sei auch der Bescheid vom 11. Mai 1992 nach § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens erklärt worden. Das Klageverfahren sowohl bezüglich der Einkommensteuer als auch des Verspätungszuschlags 1985 sei damit noch nicht erledigt.

Das Finanzgericht (FG) wies die gegen die Festsetzung eines Verspätungszuschlages zur Einkommensteuer 1985 gerichtete Klage als unzulässig ab. Das Urteil ist in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1993, 92 veröffentlicht.

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er macht ferner geltend, daß der interne Geschäftsverteilungsplan des erkennenden Senats nicht den gesetzlichen Anforderungen entspreche.

Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

I. Der erkennende Senat ist nicht gehindert, in der Streitsache zu entscheiden. Seine personelle Besetzung im konkreten Fall verstößt weder gegen Art.101 Abs.1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) noch gegen § 4 FGO i.V.m. § 21g Abs.2 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG). Die vom Kläger offensichtlich gerügte "schematische Überbesetzung" des VI.Senats des BFH mit einem Richter mehr als der gesetzlichen Mindestzahl von fünf (§ 10 Abs.3 FGO) ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der erkennende Senat verweist insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen auf die --gleichermaßen für die Überbesetzung des VI.Senats geltenden-- Ausführungen des II.Senats im Urteil vom 11. Dezember 1991 II R 49/89 (BFHE 165, 492, BStBl II 1992, 260, unter 1. a) und des VIII.Senats im Beschluß vom 29. Januar 1992 VIII K 4/91 (BFHE 165, 569, BStBl II 1992, 252, unter 4.). Die pauschal erhobene Rüge einer möglichen Manipulation der Richterbank durch den Senatsvorsitzenden geht im Streitfall schon deswegen ins Leere, weil der senatsinterne Geschäftsverteilungsplan die zur Entscheidung berufenen Richter nach abstrakten Grundsätzen bestimmt. Die Bestimmung von Berichterstatter und Mitberichterstatter aus dem Kreis der geschäftsplanmäßig zur Entscheidung berufenen Richter durch den Senatsvorsitzenden begegnet keinen Bedenken (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 22. September 1992 VII R 41/92, BFH/NV 1993, 256; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3.Aufl., § 4 Anm.24 jeweils m.w.N.).

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).

1. Das FG hat zutreffend entschieden, daß das FA am 11. Mai 1992 neben der Änderung des Einkommensteuerbescheides durch einen weiteren Verwaltungsakt die Herabsetzung des Verspätungszuschlages abgelehnt hat. Der Hinweis in dem geänderten Einkommensteuerbescheid, der bisher festgesetzte Verspätungszuschlag bleibe unverändert, ist dahin zu verstehen, daß seitens des FA eine Überprüfung mit dem Ergebnis der Aufrechterhaltung stattgefunden hat (vgl. dazu BFH-Urteil vom 20. September 1990 V R 85/85, BFHE 161, 492, BStBl II 1991, 2). Die Festsetzung eines Verspätungszuschlages ist eine Ermessensentscheidung, die von den Steuergerichten nur in den von § 102 FGO gezogenen Grenzen überprüft werden darf (z.B. BFH-Urteil vom 18. August 1988 V R 19/83, BFHE 154, 23, BStBl II 1988, 929).

2. Zu Unrecht hat das FG im vorliegenden Klageverfahren wegen der durch § 102 FGO eingeschränkten Überprüfung der Verwaltungsentscheidung einen Antrag nach § 68 FGO als unzulässig angesehen.

a) Wird der angefochtene Verwaltungsakt durch einen anderen Verwaltungsakt geändert oder ersetzt, so wird dieser auf Antrag des Klägers Gegenstand des Verfahrens (§ 68 FGO in der im Streitjahr gültigen Fassung). Die in dieser Vorschrift verwendeten Begriffe "ändern" und "ersetzen" sind weit auszulegen. Entscheidend ist, daß beide Verwaltungsakte "dieselbe Steuersache" betreffen (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 17. April 1991 II R 142/87, BFHE 164, 11, BStBl II 1991, 527, und vom 17. September 1992 V R 17/86, BFH/NV 1993, 279 jeweils m.w.N.). Diese Regelung des § 68 FGO trägt dem Umstand Rechnung, daß das finanzgerichtliche Verfahren ein --vom Verwaltungsverfahren losgelöstes-- reines Rechtsschutzverfahren darstellt. Das FA darf auch während eines Finanzprozesses den angefochtenen Verwaltungsakt ändern (§ 132 der Abgabenordnung --AO 1977--; vgl. auch § 77 Abs.3 FGO). Mit dieser einseitigen Befugnis des FA korrespondiert das Recht des Klägers, seinerseits durch Antrag den geänderten Verwaltungsakt zum Gegenstand des Verfahrens zu machen, sofern er nicht den Änderungsbescheid selbständig anfechten will. § 68 FGO dient damit der Vereinfachung und soll dem Kläger nach Möglichkeit ein weiteres Rechtsbehelfsverfahren ersparen. Zugleich soll die Vorschrift --ebenso wie § 365 Abs.3 AO 1977 für das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren-- verhindern, daß das FA den Steuerpflichtigen gegen seinen Willen aus einem Klageverfahren drängt (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 16. September 1986 IX R 61/81, BFHE 148, 104, BStBl II 1987, 435; vom 24. Mai 1991 III R 105/89, BFHE 165, 345, BStBl II 1992, 123, und vom 5. Mai 1992 IX R 9/87, BFHE 168, 213, BStBl II 1992, 1040). Dementsprechend hat der BFH § 68 FGO über seinen Wortlaut hinaus u.a. auch bei nach der Einspruchsentscheidung vor Klageerhebung ergehenden Änderungsbescheiden (z.B. Urteil in BFHE 148, 104, BStBl II 1987, 435) sowie bei mehreren, denselben Veranlagungszeitraum betreffenden Änderungsbescheiden (z.B. Urteil in BFHE 168, 213, BStBl II 1992, 1040) oder im Rahmen von Verpflichtungsbegehren für anwendbar gehalten (vgl. z.B. Urteil in BFHE 165, 345, BStBl II 1992, 123 m.w.N.; ferner Gräber/von Groll, a.a.O., § 68 Anm.4 f. m.w.N.).

b) Der Antrag nach § 68 FGO ist auch dann zulässig, wenn --wie im Streitfall-- ein den Korrekturvorschriften der §§ 130 ff. AO 1977 unterliegender und mit der Beschwerde anfechtbarer Verwaltungsakt betroffen ist (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 24. Juli 1984 VII R 122/80, BFHE 141, 470, BStBl II 1984, 791, und vom 26. November 1986 I R 256/83, BFH/NV 1988, 82, jeweils zu Haftungsbescheiden). § 102 FGO steht dem nicht entgegen. Für die gerichtliche Überprüfung einer behördlichen Ermessensentscheidung ist zwar die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgebend (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 26. März 1991 VII 66/90, BFHE 164, 7, BStBl II 1991, 545; Gräber/von Groll, a.a.O., § 102 Anm.13 m.w.N.). Die der Prüfung des FG unterliegende letzte Verwaltungsentscheidung kann aber auch eine im Verlaufe des Klageverfahrens ergangene und gemäß § 68 FGO Verfahrensgegenstand gewordene Ermessensentscheidung der Verwaltung sein (in diesem Sinne z.B. Urteil in BFH/NV 1988, 82). Das FG hat in einem solchen Fall zu beurteilen, ob die im Zusammenhang mit dieser neuen Verwaltungsentscheidung deutlich werdenden Ermessenserwägungen des FA i.S. von § 102 FGO der gerichtlichen Überprüfung standhalten. Dem Steuerpflichtigen geht hierdurch zwar eine nochmalige Beschwerdeinstanz verloren; doch es obliegt seiner Entscheidung, ob er den Antrag nach § 68 FGO stellt oder nicht (vgl. BFH-Urteil vom 31. Oktober 1990 II R 45/88, BFHE 162, 215, BStBl II 1991, 102 m.w.N.).

3. Die dem Senat --ohne Bindung an die Auffassung der Vorinstanz-- mögliche Auslegung der bisher abgegebenen Prozeßerklärungen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 14. Mai 1992 V R 57/89, BFH/NV 1993, 278 m.w.N.) führt nicht dazu, daß der Kläger den einen Verspätungszuschlag zur Einkommensteuer 1985 betreffenden Änderungsbescheid vom 11. Mai 1992 bereits gemäß § 68 FGO wirksam zum Gegenstand des Klageverfahrens gemacht hat. Der Senat hält es deshalb für geboten, die Sache an das FG zurückzuverweisen. Dieses wird dem Kläger gemäß § 76 Abs.2 FGO Gelegenheit geben, einen solchen Antrag zu stellen und anschließend unter Berücksichtigung der vorliegenden Prozeßerklärungen erneut entscheiden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 65070

BFH/NV 1994, 85

BStBl II 1994, 836

BFHE 175, 3

BFHE 1995, 3

BB 1994, 2067

BB 1994, 2067 (L)

DB 1994, 2171-2172 (LT)

DStR 1994, 1535-1536 (KT)

DStZ 1995, 217 (K)

HFR 1995, 2-3 (LT)

StE 1994, 615 (K)

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