Entscheidungsstichwort (Thema)

Fürsorgepflicht des Vorsitzenden; Prozeßverantwortung des Klägers

 

Leitsatz (NV)

Die Fürsorgepflicht nach § 76 Abs. 2 FGO beschränkt sich im Regelungsbereich des § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO auf die Fassung des Klageantrags; die Bestimmung des Klagebegehrens ist allein Sache des Klägers. § 76 Abs. 2 FGO ist daher nicht verletzt, wenn sich in einem von Anfang an auf eng umgrenzte, aber wechselnde Rechtsfragen beschränkten Rechtsstreit der Prozeßbevollmächtigte nicht bereit oder nicht in der Lage sieht, sich auf ein Klageziel festzulegen.

 

Normenkette

FGO § 40 Abs. 2, § 65 Abs. 1 S. 1, § 76 Abs. 2, § 96 Abs. 1 S. 2

 

Verfahrensgang

Hessisches FG

 

Tatbestand

Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) erließ am 26. Juni 1990 gegenüber den Klägern und Beschwerdeführern (Kläger), Eheleuten, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, einen Einkommensteuerbescheid für 1989.

Hiergegen legte der steuerliche Berater und Prozeßbevollmächtigte der Kläger (P) Einspruch ein, zu dessen Begründung er auf vier Punkte (u. a. Verfassungswidrigkeit des Grundfreibetrages und des Kinderfreibetrages) einer formularartig vorbereiteten, 35 Varianten umfassenden "Anlage" Bezug nahm.

Mit Schreiben vom 20. Mai 1991, das am 6. Juni 1991 beim FA einging, erweiterte P den Einspruch um zwei Punkte (Verfassungsmäßigkeit der in § 10 Abs. 3 und § 33 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes -- EStG -- vorgesehenen Abzugsbeschränkungen) aus einem inzwischen 43 Punkte umfassenden Begründungsformular. Außerdem teilte P in diesem Schreiben durch entsprechenden Stempelaufdruck mit, der Antrag auf Ruhen des Verfahrens, der in der Anlage zum Einspruch zwar als feststehender Einleitungssatz vorgesehen, aber nicht ausdrücklich angesprochen bzw. markiert worden war, werde "nicht aufrechterhalten" und er erbitte "eine klagefähige Entscheidung".

Mit Schreiben vom 5. Juni 1991, das am 8. Juli 1991 beim Finanzgericht (FG) eingegangen ist, erhob P, unter Vorlage einer undatierten, u. a. auch "gerichtliche ... Rechtsbehelfe" umfassenden Vollmacht, namens der Kläger Untätigkeitsklage.

In der wiederum formularartig abgefaßten Klageschrift wurde die Absicht bekundet, in der mündlichen Verhandlung verschiedene Anträge zu stellen; welche das genau sein sollten, blieb insofern unklar, als von den vorgesehenen 13 Antragsvarianten zweieinhalb nur markiert, zwei durchgestrichen und markiert, die übrigen durchgestrichen, aber alle -- ebenfalls vordruckartig -- begründet worden waren, wobei die verfassungsrechtlich begründeten Einwände gegen die Rechtmäßigkeit des Bescheids nur Hinweise auf beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängige Verfahren enthielten. Ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis für die Klage sei gegeben, weil die Nichtbearbeitung des Einspruchs zu einem erheblichen Zinsschaden führe. Der Antrag auf "Erteilung einer klagefähigen Entscheidung" sei am 5. September 1990 gestellt worden.

Mit Schreiben vom 12. November 1992 teilte P mit, er beabsichtige nunmehr, in der mündlichen Verhandlung die bisher beabsichtigten Anträge nicht mehr zu stellen, sondern nur noch "den Klageantrag zu 1 n" (nach dem Klagevordruck den vollen Abzug der geltend gemachten Versicherungsbeiträge betreffend), "und zwar mit der Maßgabe, einen um 500 DM höheren Freibetrag zu gewähren". -- Für den Fall allerdings, daß das BVerfG insoweit eine negative Entscheidung treffen sollte, werde er -- P -- die Klage wieder zurücknehmen. Bis dahin solle das Verfahren unterbrochen werden. Zur weiteren Begründung berief sich P auf ein "Schreiben vom 10./15. 7. 1992" an den Senatsvorsitzenden, das sich nicht bei den Akten befindet.

Durch Gerichtsbescheid vom 10. Februar 1993 wies das FG die Klage unter Berufung auf den Beschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 8. Mai 1992 III B 138/92 (BFHE 167, 303, BStBl II 1992, 673) vor allem mit der Begründung als unzulässig ab, es handle sich -- wie in mehr als 1 000 anderen bei diesem Gericht von P anhängig gemachten Fällen auch -- um eine rechtsmißbräuchlich erhobene "Vorratsklage", der das Rechtsschutzbedürfnis fehle, weil wegen der beim BVerfG schwebenden Musterverfahren eine Unterbrechung des Einspruchsverfahrens zur Rechtswahrung ausgereicht hätte.

Das FG hielt es für erforderlich, seine Entscheidung auch den Klägern unmittelbar zuzustellen, um ihnen persönlich rechtliches Gehör zu gewähren, weil man -- wie Parallelfälle konkret erwiesen hätten -- nicht ohne weiteres davon ausgehen könne, daß die von den Klägern erteilte Blankovollmacht auch zur Erhebung einer solch ungewöhnlichen Klage ermächtige.

Am 6. April 1993 beantragte P -- wiederum formularmäßig -- mündliche Verhandlung und Einsicht in die Verwaltungs- und Gerichtsakten beim FA.

Daraufhin teilte der Berichterstatter P am 14. April 1993 mit, Akteneinsicht könne, wie in der Regel sonst auch, bei der Geschäftsstelle des zuständigen Senats genommen werden, und zwar nach rechtzeitiger Absprache mit dieser bis zu dem noch zu bestimmenden Termin zur mündlichen Verhandlung.

Mit Verfügung vom 2. Juni 1993 wurde Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt auf den 6. Juli 1993 um 11 Uhr. Die Ladung hierzu erreichte P am 7. Juni 1993. Diesem war außerdem auf Veranlassung des Vorsitzenden am 30. Juni 1993 telefonisch mitgeteilt worden, Gelegenheit zur Akteneinsicht bestehe auch noch am Sitzungstag selbst ab 7.45 Uhr.

P, der seit Ergehen des Gerichtsbescheids schriftlich zur Sache nichts mehr vorgetragen und von der Möglichkeit, die Akten einzusehen, keinen Gebrauch gemacht hatte, überreichte in der mündlichen Verhandlung, zu der er ohne die Kläger erschienen war, ein Schreiben vom 30. Juni 1993, in dem er Beschwerde gegen die Ablehnung der Akteneinsicht beim FA einlegte: Die Kläger wollten dieses Recht mit ihrem Prozeßbevollmächtigten zusammen wahrnehmen, und es sei ihnen nicht zuzumuten, nur aus diesem Grund an den anderswo gelegenen Sitz des FG zu reisen.

Im Termin beantragte P nach dem Aktenvortrag des Berichterstatters zunächst Unterbrechung der Sitzung, damit er sich klar werden könne, welchen Antrag er stellen wolle. Dies lehnte das FG mit der Begründung ab, hierzu habe P bisher genügend Zeit gehabt, und setzte ihm zur Antragstellung eine Frist von zwei Minuten. Anschließend heißt es im Sitzungsprotokoll:"

Nachdem ... (P) die ihm gewährte Möglichkeit, einen Sachantrag zu stellen, nicht genutzt hat, sondern versucht hat, mit weiteren Richterablehnungsanträgen und weiteren Fragestellungen den Verfahrensfortgang zu behindern, ergeht der

Beschluß:

Die mündliche Verhandlung wird für beendet erklärt.

...

Ende der mündlichen Verhandlung: 11.52 Uhr ... "

Die Ablehnungsanträge behandelte das FG in der Weise, daß P sich anhand einer "Checkliste", die nach den Erfahrungen in anderen von P betriebenen Verfahren zusammengestellt war, zu entscheiden hatte, welchen der dort aufgeführten (und vom FG vorab beurteilten) bzw. welche sonstigen Ablehnungsgründe er in diesem Verfahren geltend machen wolle.

Das FG wies die Klage im wesentlichen aus den schon im Gerichtsbescheid mitgeteilten Gründen als unzulässig ab, ohne die Revision zuzulassen.

Gegen das Urteil haben die Kläger Revision nach § 116 der Finanzgerichtsordnung -- FGO -- (vgl. den Senatsbeschluß X R 232/93 vom heutigen Tag) und gegen die Nichtzulassung gleichzeitig Beschwerde eingelegt, mit der sie grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie einen Verfahrensmangel geltend machen: Sie seien im Klageverfahren nicht nach den Vorschriften des Gesetzes vertreten gewesen (§ 116 Abs. 1 Nr. 3, § 119 Nr. 4 FGO), weil das FG -- wie in weit über 1 000 anderen Fällen auch -- P faktisch vom Verfahren ausgeschlossen habe. Außerdem habe es sich bei der mündlichen Verhandlung um eine "Farce" gehandelt, um einen "Durchlauftermin", wie er sich am Verhandlungstage mehrfach wiederholt habe. Dadurch seien die Rechte der Kläger auf ein faires Verfahren verletzt worden. Über die Rechtmäßigkeit solcher mündlicher Verhandlungen habe der BFH bisher noch nicht entschieden. Breitenwirkung habe die zu entscheidende Rechtsfrage, weil zwei Senate des FG "seit Monaten" in gleicher Art und Weise verführen. Hierdurch sei auch "das Interesse der Gesamtheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts" berührt. Dieses Verhalten des FG enthalte außerdem Verfahrensfehler: Durch den faktischen Ausschluß des Prozeßbevollmächtigten sei das rechtliche Gehör verletzt worden; ferner habe der Vorsitzende die ihm nach § 76 Abs. 2 FGO obliegende Fürsorgepflicht verletzt; ein weiterer Verfahrensmangel i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens) liege in der Ablehnung der Akteneinsicht beim FA sowie in der Ablehnung der Verfahrensaussetzung. Hierzu und wegen der Ablehnung des Senatsvorsitzenden X haben die Kläger Beschwerden eingelegt, aber nicht selbständig begründet.

Die Kläger beantragen, die Revision zuzulassen.

Das FA beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

1. Der Senat sieht, nicht zuletzt unter dem (hier vor allem hinsichtlich der Kosten bedeutsamen) Gesichtspunkt der Meist begünstigung, sämtliche in dieser Sache eingelegten Beschwerden als ein einheit liches, gegen die Nichtzulassung der Revision gerichtetes Rechtsmittel an.

2. Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die seitens der Kläger geltend gemachten Zulassungsgründe sind nicht in der erforderlichen Weise dargelegt (§ 115 Abs. 3 Satz 3 FGO) bzw. nicht gegeben.

a) Soweit sich die Kläger auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache berufen, erschöpft sich das Vorbringen in unklaren, weil allgemein gehaltenen Bezugnahmen auf andere Verfahren und in Einwänden gegen das Zustandekommen des erstinstanzlichen Urteils, verbunden wiederum mit allgemeinen, formelhaften Wendungen zum allgemeinen Interesse an der "für die Beurteilung des Streitfalls maßgeblichen Rechtsfrage". Welche Rechtsfrage dies sein soll, ergibt sich aus der Beschwerdeschrift nicht. Damit ist schon den auch sonst notwendigen Anforderungen des § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO (vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 115 Rz. 7 ff. und 55 ff.) nicht genügt. Hier aber war, da die Einwände verfahrensrechtlicher Art sind, zur Abgrenzung vom Zulassungsgrund des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (s. Gräber, a.a.O., § 115 Rz. 8) in besonderem Maße Präzisierung geboten.

Soweit in der Beschwerdeschrift die Frage für grundsätzlich bedeutsam gehalten wird, ob das Gericht in Fällen der vorliegenden Art Zustellungen auch an die Vertretenen richten darf, fehlt es an der Klärungsbedürftigkeit (vgl. dazu Gräber, a.a.O., § 115 Rz. 8 f.), weil die Antwort ohne weiteres unmittelbar aus dem Gesetz abzuleiten ist (s. dazu Senatsbeschluß in der Revisionssache X R 232/93 vom heutigen Tag). Es fehlt im übrigen, auch hinsichtlich der verschiedenen Einwände gegen die Durchführung der mündlichen Verhandlung, an der Klärungsfähigkeit (vgl. Gräber, a.a.O., Rz. 10 f.), weil das FG die Klage -- unabhängig von solchen Fragen -- zu Recht als unzulässig angesehen hat und eine Revisionsentscheidung hieran nichts mehr ändern könnte (vgl. auch BFH-Beschlüsse vom 22. Januar 1988 III B 134/86, BFHE 152, 212, BStBl II 1988, 484, und vom 8. Mai 1992 III B 123/92, BFH/NV 1993, 244).

b) Auch auf § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO kann die Beschwerde mit Erfolg nicht gestützt werden.

aa) Soweit die das Verfahren betreffenden Einwände die Verletzung rechtlichen Gehörs betreffen, fehlt es an einer ausreichenden Bezeichnung des Mangels (vgl. dazu Gräber, a.a.O., § 115 Rz. 65 und § 120 Rz. 37 ff.): Es ist insbesondere nicht dargetan, inwiefern das angefochtene Urteil auf einem solchen Mangel beruhen kann, womit genau die Kläger nicht gehört wurden bzw. was genau sie an Entscheidungserheblichem vortragen wollten und nicht vortragen konnten (vgl. Senatsbeschluß vom 29. Juli 1993 X B 210/92, BFH/NV 1994, 382; Gräber, a.a.O., § 115 Rz. 26 und § 119 Rz. 11 ff.).

bb) Im übrigen lassen weder Sitzungsprotokoll noch sonstiger Akteninhalt einen Verfahrensfehler des Gerichts erkennen: Die Kläger waren im Sinne des Gesetzes ordnungsgemäß vertreten (s. dazu näher Senatsbeschluß in der Revisionssache X R 232/93 vom heutigen Tag). Daß es nach fast zweijähriger Verfahrendauer in einer ungefähr 50 Minuten währenden mündlichen Verhandlung trotz unstreitigen Sachverhalts zur Stellung eines Klageantrags nicht gekommen ist, lag nicht an einer Verletzung der Fürsorgepflicht des Vorsitzenden (§ 76 Abs. 2 FGO), sondern offensichtlich daran, daß P nicht bereit oder in der Lage war, sich auf ein Klagebegehren festzulegen, das eine richterliche Hilfestellung bei der Antragsfassung (zur Unterscheidung: § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO; Gräber, a.a.O., § 96 Rz. 3 m. w. N.) möglich gemacht hätte. Die Bestimmung des Klagebegehrens aber ist allein Klägersache (§§ 40 Abs. 2, 65 Abs. 1 Satz 1 FGO; Gräber, a.a.O., § 40 Rz. 7, § 65 Rz. 9 und 30 ff. m. w. N.). Die diesbezüglichen Mängel haben hier, da keine Ausschlußfrist nach § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO gesetzt wurde (dazu Gräber, a.a.O., § 65 Rz. 60 ff. m. w. N.), spätestens zum Schluß der mündlichen Verhandlung, unabhängig von den sonstigen, im angefochtenen Urteil festgestellten Mängeln zur Unzulässigkeit der Klage geführt.

cc) Schließlich konnten schon wegen der Unzulässigkeit der Klage die Einwände der Kläger gegen die Verfahrensweise des FG keinen Verfahrensmangel i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO begründen. Das gilt auch für die Ablehnung des Antrags auf Akteneinsicht beim FA (Senatsbeschluß vom 24. Januar 1991 X B 7--8/90, BFH/NV 1991, 475), die Ablehnung des Antrags auf Verfahrensunterbrechung (Senatsbeschlüsse vom 28. Oktober 1992 X B 68/92, BFH/NV 1993, 372, und in BFH/NV 1994, 382) sowie mangels (substantiierter, sachbezogener) Begründung (vgl. Gräber, a.a.O., § 51 Rz. 23 m. w. N.) auch für die Richterablehnung.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420490

BFH/NV 1995, 703

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