Rn 14

Verspäteter Vortrag ist (nur) zurückzuweisen, wenn seine Zulassung zur Überzeugung des Gerichts (§ 286) die Erledigung des Rechtsstreits (nicht nur ganz unerheblich, Rn 16) aus der Perspektive des Schlusses der mündlichen Verhandlung verzögerte. Das ist nach dem ganz herrschenden absoluten Verzögerungsbegriff der Fall, ›wenn der Prozess bei Zulassung des verspäteten Vorbringens länger dauern würde als bei dessen Zurückweisung. Dagegen ist es unerheblich, ob der Rechtsstreit bei rechtzeitigem Vorbringen ebenso lange gedauert hätte‹ (BGH NJW 83, 575, 576 [BGH 02.12.1982 - VII ZR 71/82]). Der BGH (NJW 79, 1988 [BGH 12.07.1979 - VII ZR 284/78]; 80, 945, 946 [BGH 31.01.1980 - VII ZR 96/79]) lehnt den sog relativen Verzögerungsbegriff ab. Es wird die Dauer des Prozesses bei Zulassung des Vortrags der Dauer bei Nichtzulassung gegenübergestellt, nicht der hypothetischen Dauer bei rechtzeitigem Vorbringen. Dafür spricht der Wortlaut des § 296 und die Praktikabilität: Das Gericht müsste ansonsten ggf mit großem Aufwand und idR mit Unsicherheiten behaftet eine hypothetische Verfahrensdauer bei rechtzeitigem Vortrag ermitteln.

 

Rn 15

Das BVerfG (NJW 87, 2733, 2375) hat den absoluten Verzögerungsbegriff im Grundsatz gebilligt, ihn aber praktisch bedeutsam eingeschränkt (St/J/Thole Rz 45, 52): Es dürften die Präklusionsvorschriften nicht dazu benutzt werden, verspätetes Vorbringen auszuschließen, wenn ohne jeden Aufwand erkennbar ist und sich ohne weitere Erwägungen aufdrängt, dass die Verspätung allein nicht kausal für eine Verzögerung ist (BVerfG NJW 95, 1417 [BVerfG 27.01.1995 - 1 BvR 1430/94]), sondern dieselbe Verzögerung auch bei rechtzeitigem Vorbringen eingetreten wäre (BVerfG NJW 87, 2733, 2735). Das BVerfG übernimmt damit den relativen Verzögerungsbegriff, wenn sich die Schwierigkeiten einer hypothetischen Einschätzung der Verfahrensdauer (Rn 14) nicht stellen (aA Saenger Rz 19; MüKoZPO/Prütting Rz 83; Wieczorek/Schütze/Weth Rz 102: Das BVerfG behandele nur die [ggf fehlende] Kausalität der Verspätung für die Verzögerung – s dazu Rn 28). Demnach ist grds vom absoluten Verzögerungsbegriff auszugehen, jedoch dann der relative maßgeblich, wenn die Verspätung offensichtlich für eine Verzögerung nicht ursächlich war. Entspr begegnet der BGH einer Überbeschleunigung gerade in Fällen, in denen ein Sachverständigengutachten eingeholt werden müsste, mit der Frage, ob die Verzögerung offenkundig nicht auch bei rechtzeitigem Vorbringen eingetreten wäre (BGH NJW 12, 2808, 2809 [BGH 03.07.2012 - VI ZR 120/11]: zum Arzthaftungsprozess, bei dem idR sachverständige Beratung erforderlich sei; Celle 20.5.20 – 14 U 3/20; s.a. Rn 56). In der Praxis kommt dieses insb für § 296 II zum Tragen (zB Hamm NJW-RR 95, 126, 127: keine Verzögerung, wenn auch bei fristgerechtem Vortrag ein Beweisbeschluss hätte ergehen müssen und der Rechtsstreit folglich nicht erledigt worden wäre; Bremen 9.2.09 – 3 U 24/08; zu § 296 I s BGH aaO; Ddorf 22.9.11 – I-8 U 29/11; Zweibr 12.12.18 – 1 U 117/16).

 

Rn 16

Eine ganz geringfügige, unerhebliche Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits (zB nur um wenige Minuten) rechtfertigen die ggf scharfen Präklusionswirkungen nicht (Hambg NJW 79, 1717, 1719; Zö/Greger Rz 18; aA Stuttg NJW 84, 2538, 2539 [OLG Stuttgart 24.07.1984 - 10 U 176/83]; MüKoZPO/Prütting Rz 107f), doch ist sie erheblich, wenn wie idR die Berücksichtigung des verspäteten Vorbringens einen neuen Termin zur mündlichen Verhandlung erforderlich macht.

 

Rn 17

Musterbeispiel einer Verzögerung ist, dass der Prozess (zB wegen Entscheidungsreife, § 300 I) im Ganzen (Rn 18) sofort beendet werden könnte, wenn der Vortrag zurückgewiesen würde, bei dessen Zulassung aber ein weiterer Termin (zB zur Zeugenvernehmung) erforderlich würde, weil die Zeugen nicht mehr rechtzeitig geladen werden können (s Rn 33). Entsprechendes gilt, könnte ohne Berücksichtigung des neuen Vortrags in der Berufungsinstanz die Sache nach ihrer Übertragung auf den Einzelrichter entschieden werden, während bei Zulassung des Vortrags die Sache dem Spruchkörper (§ 526 II 1 Nr 1) vorgelegt werden müsste (KG 26.11.09 – 8 U 126/09, Rz 44). Es reicht für die Zulassung nicht aus, dass sich das Gericht seine Überzeugung von der Richtigkeit des verspäteten Vorbringens schon in der ersten Verhandlung bilden könnte, wenn aber im Fall der Beweisführung weiterer Prozessstoff berücksichtigt werden müsste, dessen abschließende Beurteilung einen weiteren, späteren Verhandlungstermin erforderte (BGH NJW 83, 1495 [BGH 10.01.1983 - VIII ZR 244/81]; sog mittelbare Verzögerung; St/J/Thole Rz 65). Das Gericht muss sich nicht auf eine zweistufige Beweisaufnahme einlassen (Rn 33 und 38) und ist auch nicht verpflichtet, bei der Festsetzung eines Verhandlungstermins die durch die Verspätung entstandene Zeitknappheit zu berücksichtigen und zum Ausgleich einer Verspätung ggf einen späteren Termin anzusetzen (BGH NJW 81, 286 [BGH 23.10.1980 - VII ZR 307/79]; 99, 585).

 

Rn 18

Keine Verzögerung tritt ein bei nur er...

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