Leitsatz (amtlich)

a) Zur Frage, wie die "Verzögerung" im Sinne von §§ 296, 528 ZPO festzustellen ist (Bestätigung von BGHZ 75, 138).

b) § 528 Abs. 3 ZPO verstößt nicht gegen das Grundgesetz.

 

Verfahrensgang

OLG Hamm (Entscheidung vom 10.01.1979)

LG Bochum

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des 12. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 10. Januar 1979 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

 

Tatbestand

Der Kläger führte im Jahre 1976 für den Beklagten Schornsteinarbeiten aus. Am 2. November 1977 erwirkte er einen Vollstreckungsbescheid über 3.071,29 DM Restwerklohn nebst Zinsen. Mit dem Einspruch machte der Beklagte geltend, die Arbeiten seien mangelhaft und die Instandsetzung sei angemahnt. Am 2. Februar 1978 wurde ihm die Klagebegründung zugestellt mit der Auflage, binnen einer Notfrist von drei Wochen nach Zustellung der Klagebegründung dem Gericht die vollständige Klageerwiderung einzureichen, sowie mit einer Belehrung über die möglichen Folgen einer Fristversäumung (§ 296 ZPO). Nach Fristablauf wurde er am 16. März 1978 zur mündlichen Verhandlung vom 2. Mai 1978 geladen. Mit der am 29. März 1978 eingegangenen Klageerwiderung machte er wegen mehrerer Mängel ein Zurückbehaltungsrecht geltend und beantragte die Einholung eines Sachverständigengutachtens oder richterliche Augenscheinseinnahme. Der Einzelrichter des Landgerichts, dem der Rechtsstreit zur Entscheidung übertragen war, verfügte am 30. März 1978 die Zusendung der Klageerwiderung an den Kläger sowie Wiedervorlage "zum Termin". Mit einem am 28. April 1978 eingegangenen Schriftsatz trat der Kläger den Mängelrügen entgegen und beanstandete die Versäumung der Klageerwiderungsfrist durch den Beklagten.

Das Landgericht hat das Vorbringen des Beklagten als verspätet zurückgewiesen und den Vollstreckungsbescheid aufrechterhalten. Die Berufung des Beklagten ist erfolglos geblieben. (Das Berufungsurteil ist veröffentlicht in NJW 1979, 824). Mit der - zugelassenen - Revision, deren Zurückweisung der Kläger beantragt, erstrebt der Beklagte weiter die Abweisung der Klage.

 

Entscheidungsgründe

Das Berufungsgericht hält den Beklagten nicht für befugt, den unstreitigen Restwerklohn wegen Werkmängeln zurückzubehalten. Mit seinem verspäteten Vorbringen hierzu sei er im zweiten Rechtszug gemäß § 528 Abs. 3 ZPO ausgeschlossen. Das Landgericht habe es nämlich zu Recht gemäß § 296 Abs. 1 ZPO als schuldhaft verspätet zurückgewiesen. Die Berücksichtigung dieses Vorbringens würde die Erledigung des Rechtsstreits im ersten Rechtzug verzögert haben.

Gegen diese Ausführungen wendet sich die Revision ohne Erfolg.

I.

1.

Das Vorbringen des Beklagten in der Klageerwiderung ist verspätet, weil sie erst nach Ablauf der vom Landgericht gemäß § 697 Abs. 3 ZPO gesetzten Erwiderungsfrist eingegangen ist. Die Verspätung ist auch nicht entschuldigt worden.

Beides stellt die Revision nicht in Frage.

2.

Die Revision meint, durch Zulassung des verspäteten Vorbringens wäre die Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögert worden. Eine Verzögerung liege nur dann vor, wenn der Rechtsstreit bei Einhaltung der gesetzten Frist früher entschieden worden wäre als bei Berücksichtigung des verspäteten Vorbringens.

Das ist nicht richtig.

Ob die Erledigung des Rechtsstreits verzögert wird, ist allein danach zu beurteilen, ob dieser bei Zulassung des verspäteten Vorbringens länger dauern würde als bei Zurückweisung dieses Vorbringens. Es kommt nicht darauf an, ob der Rechtsstreit bei rechtzeitigem Vorbringen ebenso lange gedauert hätte. Das hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 12. Juli 1979 (BGHZ 75, 138 = NJW 1979, 1988) in Übereinstimmung mit dem VI. Zivilsenat (NJW 1979, 2109) entschieden (vgl. auch Urteile des VIII. Zivilsenats vom 6. Juni 1979 - VIII ZR 281/78 = WM 1979, 918, 921 - und vom 17. Oktober 1979 - VIII ZR 221/78 - zur Veröffentlichung in LM vorgesehen). Hieran ist festzuhalten. Die nach Erlaß des Senatsurteils BGHZ 75, 138 veröffentlichten abweichenden Urteile von Oberlandesgerichten (Düsseldorf VersR 1979, 773; Frankfurt NJW 1979, 1715; Hamburg NJW 1979, 1717 Nr. 14; Hamm NJW 1979, 1717 Nr. 13 und MDR 1979, 765) und die kritische Anmerkung von Schneider (NJW 1979, 2614) geben dem Senat keinen Anlaß, seine Auffassung zu ändern.

a)

Allerdings unterliegt es der freien Überzeugung des Gerichts nach §§ 296, 528 ZPO n.F. - anders als nach §§ 279 Abs. 1, 529 Abs. 2 ZPO a.F. -, nicht nur das Verschulden der säumigen Partei, sondern auch die mit der Verspätung verbundene Verzögerung des Rechtsstreits zu beurteilen. Der Gesetzgeber hat damit den Streit über das Vorliegen der Präklusionsvoraussetzungen zu begrenzen gesucht. Die Möglichkeit, eine materiell gerechte Entscheidung zu finden, soll nicht stärker eingeschränkt werden, als dies im Interesse der Verfahrenskonzentration notwendig ist. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, der Gesetzgeber habe damit einem hypothetischen Verzögerungsmaßstab den Vorzug geben wollen. Eine solche Absicht ist im Gesetz nicht zum Ausdruck gekommen (vgl. Deubner NJW 1977, 921, 923; 1979, 337, 339 ff; Hartmann in Baumbach, ZPO (38.) § 296 Anm. 1 und 2 C a).

b)

Das neue Verfahrensrecht kann nicht "voraussetzungslos" verstanden werden. Ihm liegt vielmehr die Absicht zugrunde, das Verfahren gegenüber der bisherigen Praxis zu vereinfachen und zu beschleunigen. Mit diesem Ziel sind auch die Vorschriften über die Zurückweisung verspäteten Vorbringens verschärft worden. Daher kann der klaren und vom Gesetzgeber ersichtlich so gewollten Regelung des § 296 ZPO nicht entgegengehalten werden, daß bei Zurückweisung verspäteten Vorbringens der Rechtsstreit im ersten Rechtszug möglicherweise früher beendet wird, als dies bei rechtzeitigem Vorbringen zu erwarten gewesen wäre (sog. "Überbeschleunigung")-Daß die Zurückweisung unter Umständen zu einem materiell nicht befriedigenden Prozeßergebnis führt, hat der Gesetzgeber hingenommen. Das Berufungsgericht weist zu Recht darauf hin, daß der Verlust von Ansprüchen durch Zeitablauf oder Fristversäumung weder dem materiellen Recht noch dem Prozeßrecht fremd ist.

3.

Eine nicht entschuldigte Verspätung erheblichen Vorbringens enthebt allerdings das Gericht nicht der Verpflichtung, gebotene Vorbereitungsmaßnahmen rechtzeitig zu veranlassen und darauf hinzuwirken, daß sich die Parteien rechtzeitig und vollständig erklären (§ 273 Abs. 1 ZPO). Wird ein verspätetes Angriffs- oder Verteidigungsmittel so rechtzeitig vorgetragen, daß es bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung noch berücksichtigt werden kann, so ist zu prüfen, ob zur Vermeidung einer Verzögerung in der Erledigung des Rechtsstreits vorbereitende Maßnahmen nach § 273 Abs. 2 ZPO zu treffen sind. Kann die Verspätung durch zumutbare Maßnahmen des Gerichts ausgeglichen werden, so darf das verspätete Vorbringen nicht zurückgewiesen werden (Senatsurteil BGHZ 75, 138).

Die Revision rügt, das Landgericht hätte noch nach Eingang des Schriftsatzes am 29. März 1978 den darin vom Beklagten als Zeugen benannten Architekten zur mündlichen Verhandlung vom 2. Mai 1978 laden sowie ein Sachverständigengutachten über die beanstandeten Werkmängel einholen können. Der Rechtsstreit wäre dann auch unter Berücksichtigung des verspäteten Vorbringens am Ende dieser mündlichen Verhandlung entscheidungsreif gewesen.

Diese Rüge ist nicht gerechtfertigt.

a)

Mit dem am 30. März 1978 dem Richter vorgelegten Schriftsatz vom 29. März 1978 erwiderte der Prozeßbevollmächtigte des Beklagten nämlich nicht auf die Klagebegründung, sondern begründete erst seinen Einspruch. Obwohl dem Beklagten die Klagebegründung mit Fristsetzung und Rechtsbelehrung bereits am 2. Februar 1978 zugestellt worden war, hatte er sie ersichtlich seinem Prozeßbevollmächtigten nicht zugeleitet; dieser bat nämlich am Schluß seines Schriftsatzes um Übersendung der Klagebegründung, falls eine solche bereits vorliege. Das Landgericht konnte sich daher aus den beiden ihm bis dahin vorliegenden Schriftsätzen noch kein klares Bild vom Sach- und Streitstand verschaffen.

b)

Das Landgericht war nicht genötigt, Zeugen zu laden und einen Sachverständigen zu beauftragen, bevor nicht der Kläger ausreichend Gelegenheit gehabt hatte, zur Klagebeantwortung (Einspruchsbegründung) Stellung zu nehmen, Danach aber durfte es die dann noch verbleibende Zeit bis zum Verhandlungstermin für zu kurz halten, als daß noch vorbereitende Maßnahmen sinnvoll gewesen wären. Es durfte insbesondere annehmen, daß das Gutachten eines Sachverständigen nicht mehr beizuschaffen sein werde.

Die Anwendung des § 296 Abs. 1 ZPO durch das Landgericht läßt nach alledem keinen Rechtsfehler erkennen.

II.

Das im ersten Rechtszug zu Recht zurückgewiesene Verteidigungsvorbringen des Beklagten war auch im zweiten Rechtszug ausgeschlossen (§ 528 Abs. 3 ZPO).

1.

Der Ausschluß nach § 528 Abs. 3 ZPO setzt - anders als die Nichtzulassung nach Absatz 1 und 2 - nicht voraus, daß die Zulassung des verspäteten Vorbringens die Erledigung des Rechtsstreits im zweiten Rechtszug verzögern würde (BGH NJW 1979, 2109). Dies ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Zweck dieser Bestimmung. Die Zurückweisung verspäteter Angriffs- und Verteidigungsmittel durch das Gericht des ersten Rechtszugs wäre sinnlos, der erstrebte Beschleunigungseffekt zunichte gemacht, die Beweiserhebung nur von einer Instanz auf die andere verlagert, wenn der gleiche streitige Vortrag, welcher bereits im ersten Rechtszug zu Recht als verspätet zurückgewiesen worden ist, dennoch im Berufungsverfahren noch Beachtung finden müßte (OLG München OLGZ 79, 109 = MDR 1978, 1028; vgl. auch Albers in Baumbach, § 528 Anm. 4; Thomas/Putzo, ZPO (10.) § 528 Anm. 3; Grunsky JZ 1977, 201, 206). Sollen nicht die Bestimmungen über die Zurückweisung verspäteten Vorbringens im ersten Rechtszug letztlich wirkungslos bleiben, so muß die im ersten Rechtszug zu Recht ergangene Zurückweisung auch im zweiten Rechtszug Bestand haben.

2.

Der endgültige Ausschluß von Angriffs- und Verteidigungsmitteln gemäß § 528 Abs. 3 ZPO verstößt nicht gegen das Grundgesetz.

a)

Das Grundrecht auf rechtliches Gehör (Art, 103 Abs. 1 GG) hindert den Gesetzgeber nicht, durch Präklusionsbestimmungen auf eine beschleunigte Abwicklung des Rechtsmittelverfahrens hinzuwirken, soweit die betroffene Partei in erster Instanz ausreichend Gelegenheit hatte, sich in allen für sie wichtigen Punkten zur Sache zu äußern, dies aber aus von ihr zu vertretenden Gründen versäumt hat (BVerfGE 36, 92, 98 = NJW 1974, 133).

b)

Auch der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG wird durch § 528 Abs. 3 ZPO nicht verletzt (ebenso OLG München aaO; OLG Celle NJW 1979, 377; OLG Oldenburg NdsRpfl. 1979, 70, 72; Albers aaO; Dengler NJW 1980, 163; - a.A. OLG Düsseldorf NJW 1979, 1719; Lampenscherf MDR 1978, 365, 367; Schneider in Zöller, ZPO (12.) § 528 Anm. VI 2 b; - zweifelnd Bender in Bender/Belz/Wax, Das Verfahren nach der Vereinfachungsnovelle und vor dem Familiengericht, 1977, Rn. 178; Franzki DRiZ 1977, 161, 166; Deubner NJW 1979, 337, 343 f; Schneider MDR 1978, 969, 971; 1979, 710, 712).

aa)

Von einer ungleichen Behandlung verspäteten Vorbringens könnte allenfalls dann gesprochen werden, wenn das Berufungsverfahren isoliert betrachtet würde. Das ist jedoch nicht zulässig. Das Berufungsverfahren ist kein neuer, sondern ein fortgesetzter Prozeß, in dem das Parteivorbringen des ersten Rechtszugs bedeutsam bleibt und manche Ergebnisse fortwirken (vgl. §§ 512 a, 531 bis 533 ZPO). Der Gesetzgeber ist daher verfassungsrechtlich nicht gehindert zu bestimmen, daß über die Zulassung oder Zurückweisung eines bestimmten verspäteten Vorbringens im gesamten Verfahren nur einmal entschieden wird. Nicht rechtzeitig vorgebrachte Angriffs- oder Verteidigungsmittel sind immer dann zuzulassen, wenn ihre Berücksichtigung die Erledigung des Rechtsstreits im Zeitpunkt des erstmaligen Vorbringens nicht verzögert oder die Verspätung genügend entschuldigt wird (§§ 296 Abs. 1 und 2, 528 Abs. 1 und 2 ZPO). Darüber entscheidet jeweils das Gericht derjenigen Instanz, in der das Angriffs- oder Verteidigungsmittel erstmals verspätet vorgetragen wird. Eine Gleichbehandlung jeglichen verspäteten Vorbringens in der Berufungsinstanz ist durch Art. 3 Abs. 1 GG nicht geboten. Der Gesetzgeber ist nicht gehindert, vorgreiflichen Entscheidungen des ersten Rechtszugs Bestandskraft zu gewähren, sofern sie rechtens ergangen sind. § 528 Abs. 3 ZPO ergänzt die Bestimmungen über die Konzentration des Verfahrens im ersten Rechtszug. Die Vorschrift unterstreicht die Bedeutung und Bestandskraft der vom Gericht erster Instanz getroffenen Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens. Zutreffend sieht Grunsky (aaO) darin "eine erhebliche Aufwertung der ersten Instanz gegenüber der bisherigen Rechtslage". Von einem "Redaktionsversehen" (so irrig Hartmann NJW 1978, 1457, 1464) kann keine Rede sein.

bb)

Ein Vergleich der Absätze 1 und 2 mit dem Absatz 3 des § 528 ZPO ergibt, daß hier nicht gleiche Sachverhalte unterschiedlich, sondern verschiedene Sachverhalte ihrer Eigenart entsprechend geregelt sind. Zwar ist allen drei Absätzen gemeinsam, daß eine Prozeßpartei Angriffs- oder Verteidigungsmittel verspätet vorgebracht und zur Entscheidung des Gerichts gestellt hat. Im Falle des Absatz 3 hatte die säumige Partei aber bereits im ersten Rechtszug eine gerichtliche Entscheidung über die Nichtzulassung des verspäteten Vorbringens erhalten, deren Rechtmäßigkeit sie vom Berufungsgericht nachprüfen lassen kann. In den Fällen der Absätze 1 und 2 dagegen hat sie ihr Angriffs- oder Verteidigungsmittel erst im Berufungsrechtszug vorgebracht, so daß über die Zulassung nicht wesentlich anders als im ersten Rechtszug zu befinden ist. (Der Maßstab des § 528 Abs. 2 ZPO ist etwas strenger als der des § 296 Abs. 2 ZPO). Diesem Unterschied dadurch Rechnung zu tragen, daß "altes" Vorbringen nicht wie neues behandelt, sondern nur geprüft wird, ob der in zweiter Instanz wiederholte Vortrag in erster Instanz zu Recht zurückgewiesen worden ist, erscheint weder unangemessen noch willkürlich. Der Gesetzgeber war verfassungsrechtlich nicht gehindert, die frühere Gleichbehandlung von neuem und wiederholtem Vorbringen (§ 529 Abs. 2 ZPO a.F.) zu ändern (vgl. Dengler aaO).

cc)

Allerdings ist die Chance, mit verspätetem Vorbringen noch gehört zu werden, im zweiten Rechtszug unter Umständen größer als im ersten. In der Berufungsbegründung neu vorgebrachte Beweismittel können nicht selten leichter ohne Verzögerung der Berufungsentscheidung berücksichtigt werden, als das am Ende des ersten Rechtszugs für das ihn abschließende Urteil der Fall ist (vgl. Deubner NJW 1978, 355 f). Das liegt vor allem daran, daß die Zeitspanne zwischen Berufungsbegründung und mündlicher Verhandlung in der Regel erheblich länger ist als die zwischen Klageerhebung und mündlicher Verhandlung im ersten Rechtszug. Dennoch geht die Partei, die ein ihr günstiges Vorbringen im ersten Rechtszug wegen der Besorgnis, damit dort zurückgewiesen zu werden, zurückhält und es erst mit ihrer Berufung vorträgt, nicht nur das Kostenrisiko des § 97 Abs. 2 ZPO ein, sondern auch das erhebliche Risiko der Nichtzulassung gemäß § 528 Abs. 1 oder 2 ZPO. Im ganzen sind die Chancen, mit verspätetem Vorbringen in der Berufungsinstanz noch gehört zu werden, von der jeweiligen Prozeßsituation und der freien Überzeugung des Berufungsgerichts abhängig. Sie können nach den Umständen des Einzelfalls unterschiedlich sein. Darin liegt aber kein Verstoß gegen das grundgesetzliche Gleichbehandlungsgebot.

dd)

Angriffs- und Verteidigungsmittel, welche im ersten Rechtszug hätten vorgebracht werden können und müssen, aber nicht vorgebracht worden sind, müssen allerdings im Berufungsverfahren dann noch zugelassen werden, wenn dies die Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögert. Diese Folge wird im Schrifttum vielfach als "Unstimmigkeit" bemängelt (vgl. OLG Celle und Düsseldorf aaO; Bender, Deubner, Franzki, Schneider aaO; Hartmann NJW 1978, 1457, 1463/1464). Der Grund hierfür ist, daß das Gesetz die im ersten Rechtszug vortragssäumige Partei im zweiten Rechtszug kaum schlechter stellt als im ersten, obgleich aufgrund des unvollständigen Parteivortrags bereits eine Endentscheidung ergangen ist, welche bei vollständigem Vortrag möglicherweise anders ausgefallen wäre. Die Möglichkeit, daß eine bewußte Verletzung der Prozeßförderungspflicht im ersten Rechtszug sich im zweiten Rechtszug bei weitherziger Anwendung der Absätze 1 und 2 durch das Berufungsgericht "lohnt", kann aber nicht dazu führen, den Absatz 3 des § 528 ZPO als eine unangemessene, den Gleichheitssatz verletzende Regelung zu werten. Sie erlaubt es auch nicht, in vermeintlich verfassungskonformer Auslegung des § 528 Abs. 3 ZPO als Voraussetzung für den Ausschluß das zusätzliche Erfordernis hineinzuinterpretieren, daß die Berücksichtigung des schon im ersten Rechtszug verspäteten und zu Recht zurückgewiesenen Vorbringens auch in der Berufungsinstanz die Erledigung des Verfahrens verzögern müsse, eine Einschränkung, die Absatz 3 im Gegensatz zu den Absätzen 1 und 2 gerade nicht enthält. Man mag die vom Gesetzgeber in § 528 ZPO insgesamt getroffene Regelung für unzweckmäßig halten. Die Unzweckmäßigkeit einer gesetzlichen Regelung begründet jedoch noch nicht deren Verfassungswidrigkeit (BVerfGE 36, 174, 189 = NJW 1974, 179, 182 mit weiteren Nachweisen).

ee)

Die Anwendung des § 528 Abs. 3 ZPO führt auch dann nicht zu einem unbilligen oder schwer erträglichen Ergebnis, wenn ein im ersten Rechtszug zu Recht als verspätet zurückgewiesenes Vorbringen im zweiten Rechtszug unstreitig geworden ist (vgl. OLG Düsseldorf aaO). Unstreitig gewordenes Vorbringen fällt nicht unter § 528 Abs. 3 ZPO. Die Vorschriften über die Behandlung verspäteter Angriffs- und Verteidigungsmittel betreffen nur streitiges und daher beweisbedürftiges Vorbringen. Zudem liegt, wenn streitiges Vorbringen unstreitig wird, ein neuer Sach- und Streitstand vor, welcher der Beurteilung des Richters erster Instanz noch nicht unterlegen hat (ebenso Bender aaO; Schneider MDR 1978, 972; Schwab NJW 1979, 697; Dengler NJW 1980, 163, 164; Albers aaO; Thomas/Putzo § 528 Anm. 3; - a.A. Grunsky aaO). Im übrigen wird Vorbringen, das im ersten Rechtszug aus anderen Gründen als den in § 296 Abs. 1 und 2 ZPO genannten nicht berücksichtigt worden ist, von § 528 Abs. 3 ZPO nicht erfaßt (BGH NJW 1979, 2109; Urteil vom 17. Oktober 1979 - VIII ZR 221/78).

III.

Nach alledem begegnet im vorliegenden Fall die Anwendung des § 528 Abs. 3 ZPO weder verfassungsrechtlichen noch verfahrensrechtlichen Bedenken. Die Revision ist daher mit der Kostenfolge des § 97 ZPO zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 3018781

BGHZ 76, 133 - 141

BGHZ, 133

NJW 1980, 945

NJW 1980, 945-948 (Volltext mit amtl. LS)

JZ 1980, 322

JZ 1980, 322-325 (Volltext mit amtl. LS)

MDR 1980, 393-394 (Volltext mit amtl. LS)

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