Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 27.06.1990)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 27. Juni 1990 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin begehrt von der beklagten Bundesanstalt für Arbeit (BA) höhere Arbeitslosenhilfe (Alhi); streitig ist noch die Leistung für die Zeit vom 8. Juli bis zum 3. Dezember 1989. Die Klägerin wendet sich gegen die Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs gegen ihren Vater nach § 137 Abs 1a Arbeitsförderungsgesetz (AFG).

Die 1946 geborene Klägerin ist von Beruf Schauspielerin. Sie lebt mit ihrer 1977 geborenen Tochter in einem eigenen Haushalt, ist ledig, seit August 1982 arbeitslos und bezieht nach Erschöpfung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld (Alg) seit Februar 1983 Alhi. In allen seit August 1985 ergangenen Bewilligungsbescheiden wurde ein fiktiver Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen ihren Vater (ursprünglich in Höhe von 50,25 DM wöchentlich) leistungsmindernd berücksichtigt. Dies gilt auch für den hier streitigen Bewilligungszeitraum ab 8. Juli 1989 (Bescheid vom 15. August 1988).

Das Sozialgericht (SG) hat die BA unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin rückwirkend ab 23. August 1985 Alhi ohne Anrechnung von Einkommen ihres Vaters zu gewähren (Urteil vom 8. März 1989).

Während des Berufungsverfahrens hat die BA der Klägerin mit Bescheid vom 30. August 1989 Alhi unter Berücksichtigung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs gegen ihren Vater weiterbewilligt und mit Bescheid vom 20. September 1989 die Berücksichtigung des Einkommens des Vaters der Klägerin ab dem 8. Juli 1989 auf § 137 Abs 1a AFG gestützt. Mit Bescheid vom 5. Dezember 1989 hat sie die Leistungsbewilligung ab 4. Dezember 1989 aufgehoben. Danach hat die Klägerin eine Fortbildungsmaßnahme absolviert und Leistungen der BA bezogen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die – für die Zeit ab 30. Dezember 1988 – zugelassene Berufung der BA zurückgewiesen. Es hat ferner auf die Klage den angefochtenen Bescheid vom 30. August 1989 abgeändert, den Bescheid vom 20. September 1989 aufgehoben und die BA verurteilt, der Klägerin auch für die Zeit vom 1. August bis zum 3. Dezember 1989 Alhi ohne Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs gegen ihren Vater zu gewähren.

Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, ein nach § 138 Abs 1 Nr 1 AFG zu berücksichtigender Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen ihren Vater habe nicht bestanden, da sie nicht außerstande gewesen sei, sich selbst zu unterhalten (§ 1602 Abs 1 Bürgerliches Gesetzbuch ≪BGB≫). Auch unter Berücksichtigung der Erziehung ihrer damals 11-jährigen Tochter sei sie unterhaltsrechtlich verpflichtet gewesen, bis zur Aufnahme einer der Ausbildung entsprechenden Beschäftigung eine der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorhandenen einfachen Beschäftigungen aufzunehmen und sich intensiv darum zu bemühen. Da die Klägerin dies nicht getan habe, fehle es an einem Unterhaltsanspruch gegen ihren Vater. Ein Unterhaltsanspruch könne auch nicht über den mit Wirkung ab 8. Juli 1989 eingeführten § 137 Abs 1a AFG fingiert werden. Denn diese Vorschrift sei bei verfassungskonformer Interpretation so zu verstehen, daß die von ihr sanktionierte Unterlassung erforderlicher Handlungen für das Entstehen bzw Fortbestehen eines Unterhaltsanspruchs ursächlich sein müsse. An der erforderlichen Kausalität fehle es hier, weil nicht ersichtlich sei, daß die Klägerin keine der für sie in Betracht kommenden ungelernten Beschäftigungen habe aufnehmen können.

Mit der – zugelassenen – und auf die Zeit ab 8. Juli 1989 begrenzten Revision rügt die BA eine Verletzung der §§ 138 Abs 1 Nr 1, 137 Abs 1a AFG sowie der §§ 103 Satz 1 und 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie macht geltend, der Klägerin stehe für den noch streitigen Zeitraum ab 8. Juli 1989 ein Anspruch auf ungekürzte Alhi nicht zu. Denn sie habe infolge fehlender Bemühungen, jedwede Arbeit anzunehmen, Handlungen unterlassen, die Voraussetzung für das Entstehen eines gegen ihren Vater gerichteten Unterhaltsanspruchs gewesen wären, und sei deswegen in Höhe des bei bestehendem Unterhaltsanspruch sich ergebenden Anrechnungsbetrages gemäß § 137 Abs 1a AFG nicht bedürftig. Die Auslegung des LSG, mit der es der Vorschrift einen dem Ziel gesetzlicher Absicherung der Anrechnungspraxis der BA zuwiderlaufenden Inhalt gegeben habe, sei nicht haltbar.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG und des SG insoweit aufzuheben und die Klage abzuweisen, als sie zur ungekürzten Leistung ab 8. Juli 1989 verpflichtet worden ist,

hilfsweise, den Rechtsstreit insoweit an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Für den im Revisionsverfahren noch streitigen Zeitraum ab 8. Juli bis 3. Dezember 1989 hat das LSG zu Recht entschieden, daß die Klägerin einen Anspruch auf ungekürzte Alhi ohne Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs gegen ihren Vater hat.

Gegenstand des Verfahrens sind der angefochtene Bescheid vom 15. August 1988 und die Bescheide vom 30. August und 20. September 1989. Mit diesen beiden Bescheiden hat die BA für den Bezugszeitraum ab 1. August 1989 Alhi weiterbewilligt und die Berücksichtigung des Einkommens des Vaters der Klägerin ab 8. Juli 1989 auf § 137 Abs 1a AFG gestützt. Zutreffend hat das LSG gemäß § 96 SGG auch über diese Bescheide entschieden, die die Klägerin mit einer verbundenen Anfechtungs- und Leistungsklage angegriffen hat (§ 54 Abs 4 SGG).

1.) Nach § 137 Abs 1 AFG ist der Arbeitslose bedürftig iS des § 134 Abs 1 Nr 3 AFG, soweit er seinen Lebensunterhalt und den seines Ehegatten sowie seiner Kinder, für die er Anspruch auf Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz oder auf eine das Kindergeld ausschließende Leistung für Kinder hat, nicht auf andere Weise als durch Alhi bestreitet oder bestreiten kann und das Einkommen, das nach § 138 AFG zu berücksichtigen ist, die Alhi nach § 136 AFG nicht erreicht.

Nach § 138 Abs 1 Nr 1 AFG als Einkommen zu berücksichtigende Unterhaltsansprüche der Klägerin bestehen nicht. Die Klägerin war iS des § 1602 Abs 1 BGB nicht außerstande, sich selbst zu unterhalten. Nach den Feststellungen des LSG hat die Klägerin sich lediglich um eine Beschäftigung in ihrem erlernten Beruf bemüht, nicht auch um einfache Arbeiten. Das LSG hat die Auffassung vertreten, die Klägerin sei – auch unter Berücksichtigung der Betreuungspflicht gegenüber ihrem Kind – gehalten gewesen, sich um solche auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorhandene Arbeitsplätze zu bemühen und diese anzunehmen. Diese Beurteilung des LSG, die auch die Revision nicht angreift, entspricht der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu der Frage, wann volljährige Kinder nach Abschluß der Berufsausbildung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten (BSGE 64, 52, 54 = SozR 4100 § 138 Nr 23 mwN; BSGE 67, 128 = SozR 3 – 4100 § 137 Nr 1 mwN; BGH FamRZ 1985, 1245, 1246; vgl auch OLG Oldenburg FamRZ 1991, 975).

Das Vorhandensein eines unterhaltsfähigen Verwandten ersten Grades kann auch nicht nach § 138 Abs 1 Nr 1 AFG zur Anrechnung eines gedachten Unterhaltsanspruchs führen (BSGE 64, 52 = SozR 4100 § 138 Nr 23; BSGE 67, 128, 136 = SozR 3 – 4100 § 137 Nr 1; vgl auch nicht veröffentlichtes Urteil des erkennenden Senats vom 28. Juni 1991 – 11 RAr 113/90 –). Demgemäß hat der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 7. September 1988 (BSGE 67, 128) die langjährige Verwaltungspraxis der BA für unzulässig erklärt, volljährige Arbeitslose, soweit sie sich nicht um unterhaltsrechtlich zumutbare Arbeiten einfachster Art bemüht hatten, auch bei offenen Arbeitsplätzen dieser Art so zu behandeln, als stünde ihnen ein nach § 138 Abs 1 Nr 1 AFG zu berücksichtigender Unterhaltsanspruch zu.

2.) Die am 8. Juli 1989 in Kraft getretene Vorschrift des § 137 Abs 1a AFG idF des KOV-Anpassungsgesetzes 1989 vom 30. Juni 1989 (BGBl I 1288) führt ebenfalls nicht zur Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs. Danach ist der Arbeitslose nicht bedürftig iS des § 134 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG, soweit er auf einen Anspruch, der nach § 138 Abs 1 Nr 1 AFG zu berücksichtigen wäre, verzichtet oder Handlungen unterläßt, die Voraussetzung für das Entstehen oder Fortbestehen eines derartigen Anspruchs sind.

Hierzu hat das LSG festgestellt, daß die Klägerin unter Berücksichtigung ihres Alters und ihres Gesundheitszustandes auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch eine Vielzahl ungelernter Beschäftigungen verrichten konnte und es nicht ersichtlich war, daß sie keine dieser Beschäftigungen hätte aufnehmen können. Soweit das LSG von der Vermutung ausgegangen ist, daß sich nicht leistungseingeschränkte Arbeitslose durch eigene Tätigkeiten selbst unterhalten können, begegnet dies keinen rechtlichen Bedenken. Auch die Unterhaltsrechtsprechung geht – im Ergebnis – davon aus, daß für das Vorhandensein offener Arbeitsplätze einfachster Art eine tatsächliche Vermutung spricht. Es bleibt – wie vom LSG bereits dargelegt – der BA unbenommen, diese Vermutung ihrerseits durch entsprechende eigene Vermittlungsbemühungen in der (unterhaltsrechtlich) erforderlichen Breite zu widerlegen.

Die Verfahrensrüge der BA gegen die Feststellung, daß es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für die Klägerin zumutbare Arbeitsplätze und Beschäftigungen gegeben habe, genügt nicht den Anforderungen des § 164 SGG. Zur Rüge, die Grenzen freier Beweiswürdigung (§ 128 SGG) seien überschritten, gehört – wie zu jeder Verfahrensrüge – die Bezeichnung der Tatsachen, die den Mangel ergeben (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG) und aus denen die Möglichkeit folgt, daß das Gericht ohne Verfahrensverletzung anders entschieden hätte. Die BA bestreitet jedoch selbst nicht, daß offene Arbeitsplätze zumutbarer Art für die Klägerin vorhanden waren. Vielmehr rügt sie lediglich einen sog Zirkelschluß insofern, als das LSG auf die Kausalität des Unterlassens von Bemühungen um einfache Arbeiten für das Nichtentstehen des Unterhaltsanspruchs nach bürgerlichem Recht abgehoben habe, ohne die dafür erforderlichen Tatsachenfeststellungen zum Arbeitsmarkt zu treffen. Damit ist jedoch nicht ausreichend dargelegt, inwiefern sich das LSG von seiner Rechtsauffassung her im Rahmen der Prüfung eines nach § 137 Abs 1a AFG zu berücksichtigenden (fiktiven) Unterhaltsanspruchs zu weiterer Sachaufklärung gedrängt sehen mußte.

Der Auffassung der BA, die Regelung erfasse auch Fallgestaltungen, in denen der Arbeitslose wegen offener Arbeitsplätze keinen Unterhaltsanspruch herbeiführen konnte, vermag der Senat nicht zuzustimmen.

Mit dieser Vorschrift – die inhaltlich weitgehend mit der ergänzenden Regelung des § 10 Nr 3 der Arbeitslosenhilfe-Verordnung (AlhiV) übereinstimmt, die zuvor der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung am 20. Dezember 1988 durch die Zweite Verordnung zur Änderung der AlhiV erlassen hatte (BGBl I 2598) – hat der Gesetzgeber erklärtermaßen auf die bereits angeführte Entscheidung des erkennenden Senats vom 7. September 1988 (BSGE 64, 52) reagiert (vgl BT-Drucks 11/4178, S 6 f). Sie ist nicht als Dauerregelung, sondern als sog „Vorschaltregelung” konzipiert worden und tritt gemäß § 249a AFG mit Ablauf des 31. Dezember 1991 außer Kraft (BGBl I, 1289).

Seinem Wortlaut nach erfaßt § 137 Abs 1a AFG Handlungen und Ansprüche aller Art, er bezieht sich jedoch vorrangig auf Unterhaltsansprüche (BT-Drucks 11/4178 aaO), die in der ergänzenden Regelung des § 152 Abs 1a AFG auch ausdrücklich angesprochen werden. Der Arbeitslose wird zur Herbeiführung eines Unterhaltsanspruchs verpflichtet mit der Sanktion, daß bei Pflichtverletzung der vereitelte Unterhaltsanspruch fingiert und bei Prüfung der Bedürftigkeit berücksichtigt wird (fiktiver Unterhaltsanspruch). Die Herbeiführungspflicht verbietet einerseits den eigens erwähnten Unterhaltsverzicht (1. Alternative) und zum anderen das Unterlassen von Handlungen, die Voraussetzung für das Entstehen oder Fortbestehen eines Unterhaltsanspruchs sind (2. Alternative).

Zu den „Handlungen”, die Voraussetzung für das Entstehen oder Fortbestehen eines nach § 138 Abs 1 Nr 1 AFG zu berücksichtigenden Unterhaltsanspruchs sind, gehören diejenigen Handlungen, die Bestandteil der unterhaltsrechtlichen Erwerbsobliegenheiten sind. Dies folgt aus der Entstehungsgeschichte und aus Sinn und Zweck der Vorschrift. Danach soll sie „klarstellen, daß Arbeitslose, die ihre unterhaltsrechtlichen Obliegenheiten nicht erfüllen, insoweit nicht bedürftig im Sinne von § 134 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG sind” (BT-Drucks 11/4178, S 7). Wie schon im Urteil vom 7. September 1988 ausgeführt ist (vgl BSGE 64, 52, 54), gelten für die Obliegenheit zur Nutzung der eigenen Arbeitskraft im Unterhaltsrecht ähnliche Maßstäbe wie für den barunterhaltspflichtigen Elternteil im Verhältnis zum minderjährigen Kind (BGHZ 93, 123, 127). Grundsätzlich zumutbar sind auch Arbeiten unterhalb der gewohnten Lebensstellung (BGHZ aaO und BGH FamRZ 1985, 1245, 1246), auch einfachste Tätigkeiten (Diederichsen in Palandt, BGB-Kommentar, 50. Auflage, § 1602 RdNr 20), und zwar im gesamten Bundesgebiet (OLG Köln FamRZ 1983, 942; Häberle in Soergel, BGB-Kommentar, 12. Auflage, § 1602 RdNr 5). Dabei ist zu beachten, daß nach der zivilgerichtlichen Rechtsprechung die Bemühung um einen Arbeitsplatz nicht materielle Anspruchsvoraussetzung für einen Unterhaltsanspruch ist. Vielmehr gehört es zur Darlegungslast des Unterhalt Begehrenden, daß er entsprechende Bemühungen nachweist. Geschieht dies nicht, ist eine Anspruchsvoraussetzung des Unterhaltsanspruchs, nämlich die Bedürftigkeit, nicht glaubhaft gemacht (vgl OLG Frankfurt FamRZ 1986, 498 f; OLG Köln FamRZ 1986, 499).

Ausgehend vom Gesetzeswortlaut, „oder Handlungen unterläßt, die Voraussetzung für das Entstehen oder Fortbestehen eines derartigen Anspruchs sind”, tritt die Anrechnungsfolge des § 137 Abs 1a AFG nur dann ein, wenn die unterlassenen Handlungen des Arbeitslosen ursächlich für das Nichtbestehen des Unterhaltsanspruchs sind. Zur 1. Tatbestandsalternative bedarf das Erfordernis der Kausalität keiner Begründung. Der Verzicht auf einen nur in der Vorstellung der Beteiligten bestehenden Unterhaltsanspruch vermag die Rechtsfolge nicht auszulösen. Auch bei der 2. Tatbestandsalternative des Unterlassens ist eine kausale Verknüpfung notwendig. Die Vorschrift stellt denjenigen Arbeitslosen, der durch aktives Tun (Verzicht) seinen Unterhaltsanspruch vereitelt, demjenigen Arbeitslosen gleich, der durch Unterlassen entsprechender Handlungen das Entstehen oder Fortbestehen eines Unterhaltsanspruchs verhindert. Die Regelung folgt dem allgemeinen Rechtsgedanken (ähnlich wie zB § 119 Abs 1 Nr 1 und 2 AFG), die Arbeitslosenversicherung vor einem Mißbrauch ihrer Versicherungsleistungen zu schützen, und soll, was schon in der amtlichen Begründung hervorgehoben wird, die Nachrangigkeit der Alhi hinter dem Unterhaltsanspruch zur Geltung bringen (BT-Drucks 11/4178, S 6 f; vgl auch Anm Gitter, FamRZ 1989, 1077, 1079; LSG Niedersachsen, Urteile vom 13. September 1990 und 11. März 1991 – L 10 Ar 78/89 und L 8 Ar 367/90 –).

Hierzu ist vorab klarzustellen, daß es nicht um eine unerwünschte Kumulierung von Alhi und Unterhaltsanspruch geht. Es ist geklärt, daß subsidiäre Sozialleistungen (Sozialhilfe, Alhi) die Bedürftigkeit als Voraussetzung eines Unterhaltsanspruchs nicht ausschließen, jedenfalls solange nicht feststeht, daß dem Berechtigten beide Leistungen nebeneinander verbleiben (Künkel, FamRZ 1991, 14 ff; BGH FamRZ 1987, 456; aA LSG Niedersachsen, Urteil vom 16. April 1991 – L 7 Ar 445/90 – unter Verneinung eines Unterhaltsanspruchs bei rechnerisch höherem Alhi-Anspruch; vgl auch Schlegel/Otte, NJW 1989, 2800 f). Das Rangverhältnis kann nur insoweit gefährdet sein, als ein – vorrangiger – Unterhaltsanspruch nicht herbeigeführt wird, der sonst den Alhi-Anspruch ausschließen würde.

§ 137 Abs 1a AFG verpflichtet den Arbeitslosen somit nur zu Handlungen, die zur Sicherung eines Unterhaltsanspruchs beitragen. Besteht jedoch ein Unterhaltsanspruch unabhängig vom Verhalten des Arbeitslosen nicht, kann es auf die Verletzung der unterhaltsrechtlichen Erwerbsmöglichkeiten für die Verneinung der Bedürftigkeit gemäß § 137 Abs 1a AFG nicht ankommen. Dies ist der Fall, wenn offene unterhaltsrechtlich zumutbare Arbeitsplätze für den Arbeitslosen vorhanden sind. Insofern treffen – wie das Hessische LSG in seiner angefochtenen Entscheidung dargelegt hat – weiterhin die Ausführungen des erkennenden Senats in seiner Entscheidung vom 7. September 1988 (BSGE 64, 52, 57 f) zu. Bereits dort hatte der Senat darauf hingewiesen, daß beim Vorhandensein entsprechender Arbeitsplätze der Arbeitslose einen Unterhaltsanspruch nicht herbeiführen kann. Nimmt er eine solche Arbeit auf, so „ist” er tatsächlich nicht mehr unterhaltsbedürftig; verweigert er die Arbeitsaufnahme, so „gilt” er als nicht unterhaltsbedürftig. Kommt aber ein Unterhaltsanspruch beim Vorhandensein offener Arbeitsstellen ohnehin nicht in Betracht, so spielt es keine Rolle, ob und in welchem Umfang sich der Arbeitslose um Arbeitsplätze einfachster Art bemüht hat, da in diesem Fall solche „Handlungen” zur Darlegung und Glaubhaftmachung der Bedürftigkeit als Voraussetzung für einen Unterhaltsanspruch nach § 1602 BGB unerheblich sind.

3.) Der Senat verkennt nicht, daß bei der dargelegten Auslegung des § 137 Abs 1a AFG, die eine kausale Verknüpfung zwischen den unterlassenen Handlungen und dem Verlust des Unterhaltsanspruchs als notwendig ansieht, dem Anwendungsbereich der Vorschrift enge Grenzen gezogen sind. Denn die Tatsachenfeststellung wird – wie hier – auch im Regelfall ergeben, daß im Bereich der einfachen und schlecht bezahlten Arbeiten offene Arbeitsplätze für voll leistungsfähige Arbeitslose vorhanden sind. Gleichwohl wird die Regelung auch in dieser Auslegung nicht gegenstandslos (so aber: Rombach, SGb 1989, 291, 295 unter Ziff 4; SG Aachen, Vorlagebeschluß vom 18. September 1990 – S 9 (10) Ar 49/89 –). Denn sie greift nicht nur in dem Ausnahme-Tatbestand, daß die Arbeitssuche eines nicht Leistungsgeminderten nach den tatsächlichen Feststellungen erfolglos geblieben wäre und zu einem Unterhaltsanspruch geführt hätte. Sie greift vielmehr in Fällen der Leistungsminderung und es sind auch Fallgestaltungen denkbar, bei denen jedenfalls für eine begrenzte Zeit ein vorrangiger Unterhaltsanspruch gegeben sein könnte, falls der Arbeitslose seinen unterhaltsrechtlichen Erwerbsobliegenheiten nachkommt, weil nicht sicher ist, ob er bereits zu Beginn seiner Bemühungen eine Beschäftigung findet. So wird von der zivilgerichtlichen Rechtsprechung teilweise die Auffassung vertreten, daß einem Berechtigten, der besondere Erschwernisgründe bei der Suche eines neuen Arbeitsplatzes oder einer neuen Arbeitsstelle darlegt, eine Schonfrist von drei Monaten zuzubilligen sein kann, in der ein Unterhaltsanspruch nicht ausgeschlossen ist (vgl OLG Hamm FamRZ 1987, 411; offengelassen in OLG Köln FamRZ 1986, 499). Außerdem ist zu beachten, daß § 137 Abs 1a AFG sich nicht nur auf Unterhaltsansprüche, sondern auf alle nach § 138 Abs 1 Nr 1 AFG zu berücksichtigenden Ansprüche bezieht, beispielsweise auch auf privatrechtliche Ansprüche, deren Entstehen oder Fortbestehen von einer Geltendmachung vertraglicher Rechte abhängig ist. Insoweit gelten hier die bereits von der Rechtsprechung des BSG entwickelten Grundsätze, wonach das wirtschaftliche Verhalten des Arbeitslosen nicht einfach hinzunehmen ist. Es ist vielmehr von ihm – wie durch die Bestimmung des § 137 Abs 1 AFG „…bestreiten kann …”) klargemacht wird – zu verlangen, daß er seine Fähigkeiten und Möglichkeiten zum Erwerb von Einkommen nutzt (vgl BSG SozR 4100 § 134 Nr 16; § 138 Nr 2; BSGE 67, 128, 138 = SozR 3 – 4100 § 137 Nr 1).

Die BA wendet zu Unrecht ein, die dargestellte Interpretation des § 137 Abs 1a AFG verkürze nicht nur in unzulässiger Weise den Anwendungsbereich der Vorschrift, sondern verfehle auch die gesetzgeberische Zielsetzung. Im Hinblick auf den eingeschränkten Anwendungsbereich der Vorschrift kann es zwar fraglich sein, ob eine am Kausalitätserfordernis orientierte Auslegung der Vorschrift (im folgenden Auslegung 1) der gesetzgeberischen Zielsetzung entspricht. So ist denn auch in der Rechtsprechung der Landessozialgerichte die Vorschrift nur teilweise im Sinne der Auslegung 1 interpretiert worden (LSG Hessen FamRZ 1991, 620; SG Hamburg in Breithaupt 1990, 490 f; LSG NRW, Urteil vom 6. Februar 1991 – L 12 Ar 152/89 –; LSG Schleswig-Holstein, Breithaupt 1991, 245). Andere Landessozialgerichte lassen es genügen, daß die unterlassene Handlung den gesetzlichen Voraussetzungen eines Unterhaltsanspruchs zugeordnet werden kann (so insbesondere LSG Baden-Württemberg, Breithaupt 1990, 499 f; LSG Berlin, Urteil vom 15. Mai 1990 – L 14 Ar 31/90 –; Urteil vom 6. März 1990 – L 14 Ar 76/89 –; Urteil vom 13. Juli 1990 – L 14 Ar 23/90 –; LSG Niedersachsen, Urteil vom 26. Juni 1990 – L 7 Ar 216/89 –; Urteil vom 12. Juni 1990 – L 7 Ar 295/89 –). Wenn der Arbeitslose die nach Unterhaltsrecht erforderlichen Bemühungen um Arbeit unterlasse, sei die Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs auch dann gerechtfertigt, wenn diese Bemühungen nicht zu einem Unterhaltsanspruch, sondern zu einem nach dem AFG unzumutbaren Arbeitsplatz geführt hätten. Zur letztgenannten Auffassung wird noch die Variante vertreten, die erforderliche Arbeitsplatzsuche richte sich im Niveau der Arbeit nach dem Unterhaltsrecht, der Umfang eigener Bemühungen jedoch nach den Maßstäben des AFG (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 29. Januar 1991 – L 1 Ar 130/90 –).

Das kann zum einen dahingehend interpretiert werden, daß Arbeitslose mit unterhaltsfähigen Verwandten ersten Grades verpflichtet sein sollen, sich um unterhaltsrechtlich zumutbare Arbeiten jedweder Art zu bemühen, und daß allein die Verletzung dieser Obliegenheit die gesetzliche Fiktion des § 137 Abs 1a AFG auslöst (im folgenden Auslegung 2). Zum anderen kann dies auch dahin interpretiert werden, der Gesetzgeber habe für Arbeitslose mit unterhaltsfähigen Angehörigen die Arbeitspflicht auch auf nach den Zumutbarkeitsregeln des AFG unzumutbare Arbeitsplätze erweitert (im folgenden Auslegung 3).

Die Auslegung 2 geht in Anlehnung an den Gesetzeswortlaut von den Voraussetzungen des Unterhaltsanspruchs aus, zu denen die Arbeitsplatzsuche, nicht aber die Aufnahme einer gefundenen Arbeit gehört, weil deren Entlohnung den Unterhaltsanspruch gerade ausschließen würde. Sie vermeidet den Vorwurf ungleicher Arbeitspflichten für Arbeitslose mit oder ohne unterhaltsfähige Angehörige.

Gleichwohl haben sich Rechtsprechung und Schrifttum ganz überwiegend nur mit den Auslegungen 1 und 3 befaßt, ohne die Auslegung 2 in Betracht zu ziehen. Die BA scheint im Runderlaß 88/89 unter Ziff 2.2.5 (abgedruckt im Dienstblatt der BA 1989), wonach § 137 Abs 1a AFG nur die Auswirkung von unterlassenen Obliegenheiten des Arbeitslosen auf die Beurteilung seiner Bedürftigkeit regelt und durch diese Vorschrift die ZumutbarkeitsAnO nicht berührt werde, der Auslegung 2 gefolgt zu sein. Andererseits hat die BA eben dort (unter Ziff 2.2.3) und auch in ihrer Revisionsbegründung in Übereinstimmung mit der Auslegung 3 ausgeführt, zu den Obliegenheiten des Arbeitslosen gehöre auch der Einsatz der Arbeitskraft, also das eigene Bemühen des Arbeitslosen um Arbeit und gegebenenfalls deren Aufnahme.

Die Auslegung 2 ist schon vom Ergebnis her abzulehnen. Ist der Arbeitslose nur zur Suche, nicht aber auch zur Aufnahme einer gefundenen Arbeit verpflichtet, so würde der Arbeitslose, der einen nach dem AFG unzumutbaren Arbeitsplatz sucht und nachweist, dessen Übernahme aber verweigert, ungekürzte Alhi erhalten, da er seine Such-Obliegenheit erfüllt hat. Das verdeutlicht den Widersinn, nur zur Suche und nicht auch zur Aufnahme der Arbeit zu verpflichten. In diese Richtung weisen auch die Ausführungen des LSG Baden-Württemberg (Breithaupt 1990, 499, 505), wonach der Arbeitslose mit leistungsfähigen Verwandten ersten Grades anders als andere Arbeitslose „indirekt auch zur Ausübung an sich unzumutbarer Erwerbstätigkeiten gezwungen” werde (ebenso SG Aachen in dem Vorlagebeschluß vom 18. September 1990 – S 9 (10) Ar 49/89 –). So ist die Regelung des § 137 Abs 1a AFG auch in der Literatur überwiegend interpretiert worden und deshalb – vor allem unter verfassungsrechtlichem Aspekt – die Frage gestellt worden, ob der Gesetzgeber die Zumutbarkeit im Rahmen des Anspruchs auf Alhi von Arbeitslosen mit unterhaltsfähigen Angehörigen ersten Grades abweichend von der Systematik des AFG definieren durfte (vgl Rombach, SGb 1989, 291, 294; ders, ZRP 1990, 388, 389 f; Gitter, Anmerkung in FamRZ 1989, 1077 f; Siegfried, SozSich 1990, 19 f; Schlegel/Otte, NJW 1989, 2800; Jerke, SGb 1990, 283 f, 409 f; ders, ZfS 1990, 353 f).

Die Vorschrift wäre sowohl in der Auslegung 2 als auch in der Auslegung 3 verfassungswidrig. Verfassungskonform ist dagegen die Interpretation der Vorschrift in der dargestellten Auslegung 1. Der Senat sähe sich an einer derartigen verfassungskonformen Auslegung allerdings dann gehindert und damit zur Vorlage an das BVerfG verpflichtet (Art 100 Grundgesetz ≪GG≫), wenn klar erkennbar wäre, daß der Gesetzgeber auch in Kenntnis der verfassungsrechtlichen Bedenken eine Regelung iS der Auslegung 2 oder iS der Auslegung 3 getroffen hätte. Denn eine verfassungskonforme Auslegung darf nicht das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen, an die Stelle der Gesetzesvorschrift inhaltlich eine andere setzen oder den Regelungsinhalt erstmals schaffen (ständige Rechtsprechung des BVerfG, BVerfGE 8, 28, 34; 48, 40, 47; 54, 277, 299; 78, 20, 24).

Wie sich aus den Gesetzesmaterialien, insbesondere aus der Begründung des Regierungsentwurfs (BT-Drucks 11/4178, S 6 f) zu § 137 Abs 1a AFG ergibt, verfolgte der Gesetzgeber mit dieser Regelung die Absicht, zum einen die Subsidiarität eines Anspruchs auf Alhi gegenüber einem unterhaltsrechtlichen Anspruch klarzustellen und zum anderen für die bisherige – vom BSG für rechtswidrig erklärte – Praxis der BA eine Rechtsgrundlage zu schaffen. Eine Absicht des Gesetzgebers, nicht nur die Rangfolge von möglichem Unterhaltsanspruch und Alhi zu regeln, sondern im Kern die Arbeitspflicht für Arbeitslose mit unterhaltsfähigen Verwandten zu verschärfen, tritt weder im Gesetzesentwurf noch in dessen Begründung hervor (BT-Drucks 11/4612, S 8 unter II). Erst bei der Beratung des Gesetzes im Ausschuß und bei der Sachverständigenanhörung wurde eine solche Absicht deutlich herausgestellt (Professor Krause, StenProt Nr 82, S 82/112, 113). Zum Gang der Beratung heißt es sodann im Ausschußbericht: Mitglieder der Fraktionen der CDU/CSU und FDP waren der Auffassung, daß gegen die beabsichtigte Regelung zwar verfassungsrechtliche Bedenken bestünden, die jedoch nicht durchgriffen, weil es sich um eine zeitlich befristete Vorschaltregelung handele, die dem Gesetzgeber die für eine Prüfung der Gesamtproblematik erforderliche Zeit verschaffe. Im übrigen gingen sie davon aus, daß die Regelung die bisherige Praxis der BA lediglich klarstelle, nicht aber verschärfe. Der Arbeitslose solle auch künftig nur insoweit nicht bedürftig sein, als fiktive Ansprüche zu berücksichtigen seien (BT-Drucks 11/4612, S 9, 10). Erst als Auffassung der Mitglieder der SPD-Franktion wird mitgeteilt, daß die Neuregelung ungleiche Arbeitspflichten begründe und dies verfassungswidrig sei ≪aaO≫).

Danach bleibt zweifelhaft, ob Ausführungen in der 2. Lesung zu ungleichen Arbeitspflichten (so die Abgeordnete Weiler – SPD -DT BT, StenBer 11 WP 134. Sitzung S 9890 C) die Meinung der Mehrheit wiedergeben. Damit kann den Gesetzesmaterialien der Wille, für Arbeitslose mit unterhaltsfähigen Verwandten die Arbeitspflicht zu verschärfen (hier: Auslegung 3), nicht mit der eine verfassungskonforme Auslegung ausschließenden Sicherheit entnommen werden. Vielmehr ist umgekehrt die Absicht des Gesetzgebers, die Reihenfolge der Unterhaltssicherungssysteme klarzustellen, ein Argument gegen diese Auslegung und spricht für die Richtigkeit der Auslegung 1.

Zur Auslegung 3 wird in der Literatur nahezu einstimmig die Auffassung vertreten, daß eine ungleiche Arbeitspflicht für Arbeitslose mit unterhaltsfähigen Verwandten ersten Grades und Arbeitslose ohne solche Verwandten gleichheitswidrig und damit als Dauerregelung verfassungswidrig wäre (vgl Rombach, ZRP 1990, 388, 390 f; Siegfried, SozSich 1990, 19, 23 f; Schmidt-Müller, SGb 1990, 311, 313). Auch nach Auffassung des erkennenden Senats ist die Auslegung 3 als verfassungswidrig abzulehnen. Soweit im Gesetzgebungsverfahren die unterschiedliche Arbeitspflicht als verfassungsgemäß angesehen wurde, geschah dies ausdrücklich nur unter Hinweis auf die zeitliche Befristung der Regelung in § 249a AFG (vgl BT-Drucks 11/4612 S 9 f zu III Nr 2; – Bezugnahme auf Professor Friauf in StenProt Nr 82, S 82/107, 108; Stellungnahme des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 10. Mai 1989, zitiert in Info also 1989, 127).

Mit der im Ausschuß des Bundestages vertretenen Auffassung, wonach das BVerfG in entsprechenden Fällen dem Gesetzgeber eine bestimmte Frist zu einem Gesamtüberdenken der Konzeption einräume (vgl BT-Drucks 11/4612 S 9 aaO), kann eine – wenn auch zeitlich befristete – Verschärfung der Arbeitspflicht für Arbeitslose mit unterhaltsfähigen Verwandten nicht gerechtfertigt werden. Das BVerfG hat zwar wiederholt ausgeführt, der Gesetzgeber dürfe bei der Ordnung von Massenerscheinungen, wie sie besonders im Bereich der Sozialversicherung auftreten, typisieren. Handele es sich um komplexe Sachverhalte, so könne es vertretbar sein, ihm zunächst eine angemessene Zeit zur Sammlung von Erfahrungen einzuräumen, in der er sich mit gröberen Typisierungen und Generalisierungen begnügen könne (vgl BVerfGE 16, 147, 187; 46, 171, 189 f; 75, 108, 162). Die weite Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Ordnung von Massenerscheinungen kann bei der Auslegung 3 (Verschärfung der Arbeitspflicht bei Arbeitslosen mit leistungsfähigen Angehörigen) schon deshalb nicht herangezogen werden, weil es sich insoweit nicht um eine Personengruppe, die nur eine Randerscheinung ist, handeln würde, sondern die Vorschrift dann gezielt auf diese Personengruppe zugeschnitten wäre. Anders als bei einer nach Erlaß des Gesetzes durch eine Änderung der Verhältnisse eingetretenen Ungleichheit, für deren Korrektur dem Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des BVerfG eine angemessene Überlegungsfrist zustehen kann, geht es bei § 137 Abs 1a AFG auch nicht darum, daß die Rechtslage durch Änderung der Verhältnisse verfassungswidrig wurde (vgl die Fristsetzung für die Neuregelung der Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte in BVerfGE 82, 126 f, – ständRspr –). Denn die Rechtslage vor Erlaß von § 137 Abs 1a AFG war, wie das BSG im Urteil vom 7. September 1988 (aaO) geklärt hat, verfassungsgemäß. Nur die Verwaltungspraxis war rechtswidrig, und – was damals nicht zu entscheiden war – auch verfassungswidrig. Zur Aufrechterhaltung einer rechts- und verfassungswidrigen Verwaltungspraxis steht dem Gesetzgeber im Rechtsstaat jedoch keine Überlegungsfrist zu. Die Verfassungswidrigkeit schließt es aus, der Verwaltungspraxis nachträglich eine Rechtsgrundlage zu geben, sei es auch nur auf Zeit. Der bewußte Erlaß einer verfassungswidrigen Rechtsnorm auf Zeit kann mit der Rechtsprechung des BVerfG zur Überlegungsfrist des Gesetzgebers nicht verglichen werden (Rombach, ZRP 1990, 388, 391; Schlegel/Otte NJW 1989, 2800 f).

An den Voraussetzungen einer Überlegungsfrist bis zum 31. Dezember 1991 fehlt es auch deshalb, weil die Verwaltungspraxis nicht durch eine Änderung der Verhältnisse rechtswidrig wurde, sondern durch eine Einengung des Kreises nach dem AFG zumutbarer Arbeit im Wege der Rechtssetzung, insbesondere durch die ZumutbarkeitsAnO vom 16. März 1982 (ANBA 1982, 523). Auf die Problematik wurde vom BSG bereits in der Entscheidung vom 13. Juni 1985 (BSGE 58, 165, 170) hingewiesen. Eine etwaige Überlegungsfrist wäre schon im September 1988 bei Erlaß der zweiten Entscheidung des BSG zum Unterhaltsrecht abgelaufen gewesen.

Aber selbst bei Einräumung einer weiteren Überlegungsfrist könnte eine so grob gleichheitswidrige Regelung, wie sie § 137 Abs 1a AFG bei der Auslegung 3 wäre, nicht hingenommen werden.

Soweit die Rechtsprechung der Landessozialgerichte wegen der Befristung Verfassungswidrigkeit verneint hat (vgl LSG Baden-Württemberg, Breithaupt 1990, 499 f; LSG Berlin – L 14 Ar 31/90 und L 14 Ar 76/89 – sowie LSG Niedersachsen – L 7 Ar 216/89 und L 7 Ar 295/89 –), wird nicht ausreichend berücksichtigt, daß es nicht nur um die Arbeitsplatzsuche mit der Aussicht auf einen Unterhaltsanspruch im Falle der Ergebnislosigkeit geht, sondern vorrangig um die Verpflichtung, eine gefundene Arbeit zu übernehmen. Ein hinreichend sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung kann auch nicht in der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der unterhaltspflichtigen Angehörigen gesehen werden. § 137 Abs 1a AFG in der Auslegung 3 regelt die Bedürftigkeit hinsichtlich der Zumutbarkeit der Aufnahme einer bestimmten Arbeit. In diesem Zusammenhang ist aber die Leistungsfähigkeit der Eltern bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten und der Systematik des AFG entsprechenden Betrachtungsweise ohne Bedeutung.

Es kann auch nicht dahingehend argumentiert werden, die Frage, daß jemand dem Grunde nach einen Anspruch auf Alhi habe und sich nur im Rahmen der Beurteilung der Bedürftigkeit die Frage der Höhe stelle, dh wieviel Alhi er als Leistung der BA bekomme, habe mit der ganz anderen Frage, wie sie sich im Rahmen der ZumutbarkeitsAnO stelle, nichts zu tun (so jedoch die BA in ihrem Erlaß 88/89 und in ihrem Durchführungsanweisungen zu § 137 Nr 18). Denn die Anrechnungsvorschrift des § 137 Abs 1a AFG regelt lediglich die Rechtsfolgen eines dem Grunde nach bestehenden Anspruchs auf Alhi. Deshalb können für die Bedürftigkeitsprüfung keine anderen Zumutbarkeitsmaßstäbe gelten als bei der Prüfung der Verfügbarkeit nach § 103 AFG.

Ohne Bedeutung ist auch, ob das Vorhandensein unterhaltsfähiger Eltern den Schluß rechtfertigt, diese würden im Regelfall auch ohne Rechtspflicht tatsächlich Unterhalt leisten, was Bedürftigkeit ausschließe. Von einer allein an das Vorhandensein unterhaltsfähiger Verwandter anknüpfenden Regelung, wie sie die BA zunächst befürwortet hatte, hat der Gesetzgeber nämlich bewußt Abstand genommen (vgl LSG Baden-Württemberg Breithaupt 1990, 499, 503 unter Hinweis auf einen Erlaß der BA vom 28.12.1988 IIa 4-7138.1 A/7137). Der Gesetzeswortlaut verlangt neben unterhaltsfähigen Eltern eindeutig „unterlassene Handlungen”. Eine Auslegung im Sinne vermuteter Unterhaltsleistung kommt damit nicht in Betracht. Im übrigen wäre sie auch nicht verfassungskonform, weil Umstände, die eine solche Annahme rechtfertigen könnten, nicht erkennbar sind. Insoweit gelten hier dieselben Erwägungen, wie sie bereits vom BSG in der Entscheidung vom 28. Juni 1990 (BSGE 67, 128, 134) zu § 10 Nr 3 AlhiV dargelegt worden sind. Es gibt keinen logisch zwingenden Schluß, daß derjenige, der es unterläßt, Handlungen vorzunehmen, die zur Glaubhaftmachung der Bedürftigkeit als Voraussetzung eines Unterhaltsanspruchs gehören, stets über ausreichende Mittel verfügt, aus denen er seinen Lebensunterhalt bestreitet oder bestreiten kann (BSG aaO).

Auch der Gesichtspunkt, daß die Alhi keine echte Versicherungsleistung ist, vermag eine unterschiedliche Zumutbarkeitsgrenze für Arbeitslose mit und ohne unterhaltsfähige Verwandte nicht zu rechtfertigen, da dieser Gesichtspunkt alle Arbeitslosen in gleicher Weise betrifft. Dahingestellt bleiben kann die bereits anläßlich der Sachverständigenanhörung erörterte Frage, ob der Gesetzgeber die privilegierenden Zumutbarkeits-Regelungen im Bereich der Alhi anders als im Bereich des Alg hätte regeln können (vgl Rombach, SGb 1989, 291, 294). Denn diesen Weg hat der Gesetzgeber mit der Regelung des § 137 Abs 1a AFG nicht beschritten.

Eine unterschiedliche Arbeitspflicht der Arbeitslosen mit und ohne unterhaltsfähige Verwandte kann schließlich auch nicht mit den Gedanken der Massenverwaltung und der dort zulässigen Typisierung gerechtfertigt werden. Beide Gedanken sprechen im Gegenteil für eine einheitliche Zumutbarkeitsgrenze für alle Arbeitslosen. Der Umfang der Ungleichbehandlung wäre auch nicht nur verhältnismäßig geringfügig. Weder der Kreis der betroffenen Arbeitslosen noch das Maß der Betroffenheit im Regelfall können als geringfügig vernachlässigt werden.

Soweit Arbeitslose zur Aufnahme jeder – unterhaltsrechtlich zumutbaren – Arbeit gezwungen werden, also auch zu nicht ständigen, nicht sozialversicherungspflichtigen oder untertariflichen Beschäftigungen, ist keineswegs nur der Kreis von Arbeitslosen mit qualifiziertem Berufsschutz betroffen. Die vom Gesetzgeber angestrebte Einsparung von 400 Millionen DM jährlich (BT-Drucks 11/4178 S 8 unter II) zeigt vielmehr, daß nicht nur ein umfangreicher Personenkreis (vgl StenProt Nr 82 S 82/62, zitiert bei Winkler, Info also 1989, 149), sondern auch der einzelne Arbeitslose in erheblichem Umfang betroffen wäre. Hierzu steht nicht im Widerspruch, daß die ZumutbarkeitsAnO bei entsprechender – bisher von der BA nicht praktizierter – konsequenter Handhabung keine allzu große Diskrepanz zum Unterhaltsrecht aufweist, wie der Senat im Urteil vom 7. September 1988 ausgeführt hat (BSGE 64, 53, 60 f). Denn abgesehen davon, daß dieses Argument nicht bei Beziehern originärer Alhi (vgl § 134 Abs 2 AFG) greift, ist der Zwang zu Arbeiten auf der untersten Stufe belastend. Zum anderen würde die Grenze zur Willkür jedenfalls insoweit überschritten, als die Sanktion für die Ablehnung derselben unzumutbaren Arbeit mit demselben Verdienst je nach Leistungsfähigkeit der Eltern eine höchst unterschiedliche Minderung der Alhi zur Folge hätte.

Das Ausmaß der Ungleichbehandlung hinsichtlich der Zumutbarkeitsgrenze würde bei der Auslegung 3 schließlich auch nicht durch den Anspruch auf Sozialhilfe oder durch die sog Gleichwohlgewährung gemildert (vgl zu letzterer Urteil des erkennenden Senats vom 28. Juni 1991 – 11 RAr 113/90 –). Der Anspruch auf Sozialhilfe könnte nämlich erst eingreifen, wenn der Arbeitslose seiner verschärften Arbeitspflicht nicht nachkäme und deswegen nur gekürzte Alhi erhielte. Dagegen hätte der Arbeitslose, der seiner verschärften Arbeitspflicht genügt, wegen des Arbeitseinkommens in der Regel weder einen Unterhaltsanspruch noch einen Anspruch auf Sozialhilfe.

Auch die Auslegung 2 ist nach Auffassung des Senats verfassungsrechtlich nicht haltbar.

Nach dieser Auslegung bestimmt § 137 Abs 1a AFG für Arbeitslose mit unterhaltsfähigen Verwandten ersten Grades, daß sie sich einen Unterhaltsanspruch, wie er bei ergebnislosen Bemühungen um Arbeitsplätze einfachster Art bestehen würde, beim Fehlen derartiger Bemühungen auch dann anrechnen lassen müssen, wenn diese Bemühungen Erfolg gehabt hätten. Dabei wird „typisierend” unterstellt, daß derartige Bemühungen regelmäßig erfolglos sind.

Der Gesichtspunkt der Typisierung kann es jedoch nicht rechtfertigen, die für einen Ausnahmetatbestand (auch einfachste Arbeitsplätze nicht vorhanden) sachgerechte Regelung auf den Regeltatbestand (einfachste Arbeitsplätze erreichbar) zu erstreken. Zwar sind typisierende Regelungen im Sozialversicherungsrecht allgemein als notwendig anerkannt und im Grundsatz verfassungsrechtlich unbedenklich. Wie das BVerfG bereits im Jahre 1959 (BVerfGE 9, 20 = NJW 1959, 283 f) zu § 150 Abs 1 Nrn 2 und 3 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) – der Vorgängerregelung zu § 138 Abs 1 Nr 2 AFG -festgestellt hat, kann der Gesetzgeber bestimmte Lebenssachverhalte, bei denen der Lebensunterhalt eines Arbeitslosen durch seine Zugehörigkeit zu einem Haushalt als gesichert gilt, ohne Rücksicht auf die bürgerlich-rechtliche Unterhaltspflicht typisierend regeln. Gleichzeitig hat das BVerfG in dieser Entscheidung aber herausgestellt, daß bei Sozialleistungen, deren Gewährung von der Bedürftigkeit des Antragstellers abhängt, nicht möglicherweise bestehende Rechtsansprüche, sondern „die faktischen wirtschaftlichen Verhältnisse des Arbeitslosen” maßgebend sind (BVerfG aaO, 29). Im Wege der Typisierung darf hiernach nur die für den Regelfall sachgerechte Lösung auf Ausnahmefälle erstreckt, nicht aber umgekehrt die für einen Ausnahmetatbestand sachgerechte Lösung auf den Gesamttatbestand ausgedehnt werden. Der Gesetzgeber durfte deshalb nicht aus Gründen der Typisierung die für den Ausnahmetatbestand der erfolglosen Arbeitsplatzsuche sachgerechte Lösung der Anrechnung eines Unterhaltsanspruchs auf den Gesamttatbestand erstrecken. Mußte er somit bei Anknüpfung an den Tatbestand fehlender Bemühungen um einen nur nach Unterhaltsrecht zumutbaren Arbeitsplatz vom Regeltatbestand erfolgreicher Bemühungen ausgehen, wäre die Norm bei der Auslegung 2 verfassungswidrig.

Der Senat hat berücksichtigt, daß sich seine Entscheidung zur Auslegung des § 137 Abs 1a AFG auch auf die Übergangsregelung des § 152 Abs 1a AFG auswirkt. Nach dieser Vorschrift werden unanfechtbare Verwaltungsakte über die Berücksichtigung eines Unterhaltsanspruchs nicht aus unterhaltsrechtlichen Gründen für die Vergangenheit zurückgenommen. Die Einschränkung der Zugunstenregelung (§ 44 SGB X iVm § 152 Abs 1 AFG) soll verhindern, daß die Verwaltungspraxis, soweit sie für die Zukunft in § 137 Abs 1a AFG eine Rechtsgrundlage gefunden hat, in bindend beschiedenen Fällen korrigiert wird. Soweit die Berücksichtigung eines Unterhaltsanspruchs auch nach § 137 Abs 1a AFG nicht gerechtfertigt ist, etwa weil der Vater bereits vor dem Anrechnungszeitraum verstorben war, wird der Anspruch auf eine Zugunstenregelung nicht ausgeschlossen. Das entspricht der Absicht des Gesetzgebers, die Zugunstenregelung in den Fällen auszuschließen, in denen der Arbeitslose einen Unterhaltsanspruch herbeiführen konnte (BT-Drucks 11/4178 S 7 zu Art 2 Nummer 2), und belegt zugleich, daß der Gesetzgeber nur unter dieser Voraussetzung einen fiktiven Unterhaltsanspruch berücksichtigt wissen will.

Die Revision war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1172792

BSGE, 285

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