Recruiting im Metaverse: Die Zukunft der Bewerbung

Die Rollenverteilung im Recruiting hat sich geändert. Das wirkt sich auf den Bewerbungsprozess aus. Die Bewerbung steht vor einer automatisierten Zukunft und das Metaverse wird eine zentrale Rolle spielen. Trotzdem gilt: Der menschliche Faktor bleibt wichtig und wird sogar wichtiger.

Um sich der Bewerbung der Zukunft und damit dem Recruitingprozess der Zukunft anzunehmen, gilt es, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Zum einen die Perspektive der Kandidatinnen und Kandidaten und zum anderen die der Unternehmen. Was im ersten Moment vielleicht etwas trivial klingt, ist in Wahrheit alles andere als das. Denn letztlich wollen beide Parteien zueinanderfinden. Und wer zueinanderfinden möchte, tut eben nicht schlecht daran, die Perspektive des jeweils anderen einzunehmen und daraus sein Verhalten im Matching-Prozess abzuleiten.

Benötigt wird das Bewusstsein für die jeweiligen Bedürfnisse, was Sascha Krause, Industry Head bei Google Germany, bereits 2016 auf den Social Recruiting Days in einem Satz treffend zusammenfasste: "Needs are bigger than brands". Die genaue Bedeutung des Satzes in unserem Kontext wird im Nachfolgenden noch deutlicher werden. Wenn wir aber über die Bewerbung der Zukunft sprechen, liegt auf der Hand, dass nicht die Unternehmen die impulsgebende Kraft sein werden, die diesen Prozess formen, sondern die Bewerbenden. Denn die aktuelle Arbeitsmarktlage zeigt deutlich: Der Fachkräftemangel ist längst zu einem viel umfangreicheren Arbeitskräftemangel geworden, der die Ausgangslage im Bewerbungsprozess schlicht umdreht.

An den Bedürfnissen der Bewerbenden orientieren

Um zu verstehen, in welche Richtung sich der Bewerbungsprozess entwickeln wird, müssen wir uns an den Needs der Kandidatinnen und Kandidaten orientieren. Auch wenn noch nicht alle Berufsgruppen gleichermaßen vom Arbeitskräftemangel betroffen sind, haben doch immer mehr Jobsuchende die Qual der Wahl, wenn sie sich nach einem neuen Arbeitgeber umschauen. Die Folge dieser neuen, herausgehobenen Position der Kandidatinnen und Kandidaten ist: Der Begriff "Bewerbung" gehört der Vergangenheit an. Für wechselwillige Menschen geht es darum, eine Auswahlentscheidung zu treffen. Ihr Need besteht also darin, mit möglichst wenig Aufwand den optimalen Arbeitgeber auszusuchen. Dabei spielt der Faktor Zeit eine besondere Rolle. Dieser steigt stetig im Wert.

Zudem leben wir in einer digitalen Welt, in der exponentielle Geschwindigkeitsraten zur Normalität gehören. Während auf Unternehmensseite häufig noch über die Einführung neuer Technologien im HR-Umfeld diskutiert wird, werden diese in anderen Disziplinen oftmals längst gelebt. Nehmen wir das Beispiel der künstlichen Intelligenz im Bewerbungsprozess: ein Thema, das vor allem auf HR-Seite heiß diskutiert wurde und wird. Wagen wir in diesem Kontext den Blick über den HR-Tellerrand hinaus, sehen wir schnell, dass die Frage nicht lautet, ob künstliche Intelligenz Prozesse begleitet, sondern in welcher Form sie es tut.

Künstliche Intelligenz im Bewerbungsprozess spart Zeit

Interessant dazu sind Zahlen einer 2020 durchgeführten Umfrage des Trendence Instituts zum Thema "Künstliche Intelligenz (KI) im Bewerbungsprozess". Befragt wurden circa 40.000 Studierende und knapp 20.000 berufserfahrene Akademikerinnen und Akademiker. Das Ergebnis seinerzeit: 72 Prozent der Befragten stuften KI im Bewerbungsprozess als grundsätzlich sinnvoll ein. Dabei – so die Sichtweise der Befragten – kann KI vor allem zeitliche Ersparnisse liefern. Davon waren 94 Prozent der Teilnehmenden überzeugt. Das ist deshalb eine so bedeutsame Einschätzung, weil gerade der Zeitfaktor an Bedeutung gewinnt, wenn Kandidatinnen und Kandidaten eine Fülle an Auswahloptionen zur Verfügung stehen.

Auf Platz zwei stand mit 82 Prozent das Thema der Objektivität in der Personalauswahl, die sich aus Sicht der Befragten durch den Einsatz von KI verbessern lasse. Dieses Ergebnis offenbart einen eklatanten Mangel an Vertrauen in Richtung der Unternehmen und den derzeitigen Auswahlverfahren, denen eine eher subjektive Vorgehensweise zugeschrieben wird.

In eine ähnliche Richtung deutet eine steigende Akzeptanz für den Einsatz von Chatbots im Bewerbungsprozess. Bewerbungsprozesse, durch die ein Chatbot führt, sind längst kein Tabu mehr für Stellensuchende, die – wie wir gesehen haben – keine Zeit zu verlieren haben. Der Wunsch nach mehr Automatisierung ist jedenfalls greifbar – mit einer Einschränkung: In der Trendence-Befragung wurde auch deutlich, dass der Einsatz von KI lediglich im ersten Teil des Bewerbungsprozesses gewünscht wird. Über 90 Prozent der Befragten halten den Einsatz von KI im Telefoninterview oder im Vorstellungsgespräch für nicht sinnvoll.

Die Bewerbung steht vor einer automatisierten Zukunft

Man kann also mit Blick auf die Ausgangsfrage durchaus schlussfolgern: Die Bewerbung der Zukunft ist aus Sicht der Bewerbenden eine vielfach automatisierte. Die wesentlichen Zeitfresser werden dabei eliminiert und Algorithmen übernehmen bis zu dem Zeitpunkt, in dem ein kultureller und persönlicher Eindruck wichtig wird.

Konkret heißt das: Zukünftig werden sich immer mehr Bewerbende unterschiedlicher Tools bedienen, um ihre Bewerbungen auf den Weg zu bringen. Von LoopCV, einem Tool, das es den Nutzenden ermöglicht, zahlreiche Bewerbungen an Unternehmen zu verteilen, bis hin zu vielfältigen Matchingtools wird es eine Vielzahl an technologischen Möglichkeiten geben, den Bewerbungsprozess unproblematisch zu digitalisieren. Nach dem Erfolgskurs des Fitnesstracking und der fortlaufenden Selbstoptimierung, wird dieser digitale Fortschritt nicht vor der Bewerbung Halt machen.

Die Zukunft des Recruitings aus Sicht der Unternehmen

Auch auf die Gefahr hin, dass es etwas desillusionierend klingen mag: Die Unternehmen werden den bestehenden Prozessen treu bleiben. Anders gesagt: Die Veränderung des Prozesses wird von den Bewerbenden ausgehen, nicht von den Unternehmen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass diese Prozesse zukünftig nicht mehr "State of the Art" sein werden.

Für die Unternehmen spielen verschiedene Faktoren eine Rolle, wenn wir ein Bild der Recruiting-Zukunft malen. Unter anderem besteht der typische unternehmerische Wunsch nach Optimierung von Ressourcen und damit einhergehend einer Verschlankung der Prozesse. Beides treibt Unternehmen automatisch immer stärker in Richtung moderner Technologien. Deshalb werden wir auch hier den verstärkten Einsatz von KI erleben.

Diese Entwicklung wird nicht zuletzt dadurch vorangetrieben, dass auch das Berufsfeld der Recruiterin bzw. des Recruiters vom beschriebenen Arbeitskräftemangel betroffen ist. Es wird in Zukunft weniger Recruitingexpertinnen und -experten in den Unternehmen geben – eine klassische Personalsituation, in der sich automatische Prozesse durchsetzen.

Der Aufwand für das Recruiting steigt

Parallel beobachten wir, wie im ersten Abschnitt dieses Beitrags bereits ausgeführt, einen stark verengten Arbeitsmarkt, in dem Beschäftigte schneller den Job und Arbeitgeber wechseln, um ihre hervorgehobene Arbeitsmarktposition auszunutzen. Für Unternehmen bedeutet dies, dass neben dem Wunsch der Verschlankung eine Aufwandssteigerung entsteht. Neues Personal zu finden, ist schwieriger, teurer und aufwendiger denn je. Die Unternehmen werden daher zunehmend ihr Recruitingwissen schulen und im Bereich der Bewerbung deutlich stärker auf die Bedürfnisse der Kandidatinnen und Kandidaten eingehen müssen. So kann man an den aktuellen Zahlen des "Trendence HR Monitors" ablesen, dass IT-Professionals durchaus an virtuellen Prozessen festhalten wollen, während sich beispielsweise berufserfahrene Kandidatinnen und Kandidaten aus kaufmännischen Berufsfeldern den persönlichen Kontakt wünschen. Genau dieses Zielgruppenwissen müssen sich Unternehmen auf allen Ebenen zunehmend aneignen.

Die Kandidaten-Vorauswahl wird sich verändern

Nehmen wir nun bei der Zusammenführung der beiden Betrachtungen eine Meta-Perspektive ein: Durch die Angebotsvielfalt für die Kandidatenseite werden wir dort nicht nur Technologiesprünge erleben, sondern auch eine ganz neue Art der Pre-Qualifizierung. Es entsteht ein Entscheidungsproblem, und die Auswahl der Arbeitgeber muss anhand von individuell definierten Kriterien möglichst schnell erfolgen.

Dabei wird es auch zukünftig um einen fachlichen sowie kulturellen Fit gehen. Bereits heute können Kandidatinnen und Kandidaten sehr viel künstliche Intelligenz in ihre Karrieresuche integrieren. Angebote wie Axiom.ai ermöglichen es jeder Person, einfache intelligente Helferlein (Bots) zu erstellen, die beispielsweise Unternehmen beobachten oder anderweitig Karriereinformationen vorstrukturieren.

Neue Bedeutung der Stellenanzeige

Für die Seite der Unternehmen bedeutet das, dass sie sukzessive den Auswahlprozess, den man bislang als Bewerbung und Bewerbungsauswahl verstanden hat, wegfallen lassen können. Ist das gleichzeitig der Tod der Stellenanzeige? Klare Antwort: auf keinen Fall. Die Stellenanzeige wird in diesem Szenario zur Matching API, gegen die Kandidatinnen und Kandidaten ihre digitalen Tools laufen lassen. Gleich im Anschluss daran erfolgt der direkte Sprung in die persönlichen Gespräche, die es auch in Zukunft noch geben wird.

Uns muss klar werden, dass eine stärkere Digitalisierung des Prozesses in keinem Widerspruch zur Vermenschlichung desselben steht. Ganz im Gegenteil: Durch die Orchestrierung von Tools auf beiden Seiten entsteht mehr Zeit für die zwischenmenschliche Komponente.

Das Metaverse steht vor der Tür

Zukunftsvisionen des Bewerbungsprozesses können seit dem vergangenen Jahr nicht mehr ohne die Berücksichtigung des Metaverse vorgenommen werden. Das Thema erscheint vielen noch weit weg, aber tatsächlich haben sich die Entfernungen von Entwicklungszyklen derart verkürzt, dass man davon ausgehen kann, dass nicht nur Meta (ehemals Facebook) den angestrebten Drei-Jahres-Plan realisieren wird. Die Auflösung des Raumgefühls und die Verbindung der verschiedenen Wirklichkeiten (VR/AR/Real Life) wird den Bewerbungsprozess massiv beeinflussen.

Wechseln wir wieder in die beiden Perspektiven, mit denen wir diesen Beitrag begonnen haben, wissen wir, dass die Kandidatinnen und Kandidaten den Unternehmen voraus sind. Unsere Zahlen zeigen, dass sich bereits heute knapp 60 Prozent der berufserfahrenen Beschäftigten vorstellen können, mit einer virtuellen Brille zu arbeiten. Fragt man nach einer "Augmented-Reality-Brille", steigt der Wert derer, die sich das bei ihrer täglichen Arbeit vorstellen können, sogar auf knapp 80 Prozent (Quelle: Trendence HR Monitor).

Das HR-Bewusstsein für das Metaverse fehlt

Dazu passende Daten der HR-Bereiche der Unternehmen liegen uns nicht vor. Meine These ist aber, dass das Bewusstsein, dass beginnend mit 2023 das Metaverse-Zeitalter seinen Lauf nimmt, hier noch nicht vorhanden ist. Dieses Bewusstsein zu bilden, wird die wesentliche Herausforderung sein, nicht die technische Ausstattung. Personalabteilungen müssen sich lediglich jetzt und heute fragen, ob sie bereit wären, im Januar 2023 im Metaverse den Arbeitsplatz zu beziehen. Wer genau an dieser Stelle zuckt, weil er glaubt, nicht vorbereitet zu sein, oder aber denkt, dass es noch fünf Jahre dauert, bis sich solche Fragen stellen, könnte selbst schneller überholt werden, als ihm oder ihr das lieb sein könnte.

Die Geschwindigkeit, mit der Technologien in HR Einzug halten, ist schon seit Jahren höher als die Anpassungsgeschwindigkeit der HR-Bereiche selbst. Das bedeutet, ist der Anpassungsprozess bei der scheinbar neuen Technologie noch nicht ganz abgeschlossen, winkt schon die neue Technologie.

Die Grenzen zwischen virtuell und real schwinden

Wir laufen also in eine Zeit, in der es keine Grenzen mehr zwischen virtuellen und realen Arbeitswelten geben wird. Wichtiger noch: Wir werden deutlich andere digitale Möglichkeiten haben, den gesamten Prozess zu gestalten. Dinge, die heute nur in wenigen Firmen fester Bestandteil des Prozesses sind, wie Gespräche von Bewerbenden mit "echten" Mitarbeitenden, können viel leichter in die Bewerbung integriert werden. Der Fokus kann auf die Einstellung gelegt werden, natürlich aus dem Blickwinkel beider Parteien.

Wir haben festgestellt: Der Bewerbungsprozess wird sich in Zukunft stärker in Richtung der Kandidatinnen und Kandidaten verschieben. Die Auswahl im Bewerbungsprozess wird auf ihrer Seite liegen. Das bedeutet für Unternehmen: Die Stellenanzeige und die darin enthaltenen Informationen müssen viel aussagekräftiger werden, um einen echten Matchingalgorithmus gegenlaufen lassen zu können. Alle darauffolgenden Prozessschritte können künftig entfallen, bis zum finalen Interview in  Persona.

Zudem werden wir einen weiteren Sprung in Richtung einer stärkeren Technologisierung erfahren. Kandidatinnen und Kandidaten sowie Recruiterinnen und Recruiter werden Bot-Armeen und Algorithmen orchestrieren. Auf der anderen Seite gilt aber auch: Der Mensch sowie dessen Haltung rückt in den Vordergrund.


Der Artikel ist in ungekürzter Form im Sonderheft "Personalmagazin plus: Trends im Recruiting 2022" erschienen, das hier kostenlos zum Download verfügbar ist