Die wichtigsten BAG-Urteile des Jahres 2023
Welche Entscheidungen der Arbeitsgerichte waren im vergangenen Jahr besonders spannend? Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat im Rechtsprechungsjahr 2023 etliche wichtige Urteile gefällt, die hohe Relevanz für die Praxis haben. Hier unsere Auswahl.
Teilzeitbeschäftigten steht bei gleicher Tätigkeit derselbe Lohn zu
Ein Rettungsassistent, der auf geringfügiger Basis beschäftigt ist, muss bei gleicher Tätigkeit auch gleich wie seine in Vollzeit- oder Teilzeit beschäftigten Kolleginnen und Kollegen bezahlt werden. Die Gründe des Arbeitgebers für die Ungleichbehandlung bei der Bezahlung (größere Planungssicherheit und weniger Planungsaufwand bei den hauptamtlichen Rettungsassistenten) ließ das höchste Arbeitsgericht Deutschlands nicht gelten.
BAG Urteil vom 18.01.2023 - 5 AZR 108/22
Arbeitnehmer tragen die Darlegungslast bei einer Fortsetzungserkrankung
Wird ein Arbeitnehmer infolge derselben Krankheit erneut arbeitsunfähig, hat er nach § 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG wegen der erneuten Arbeitsunfähigkeit nur dann einen Entgeltfortzahlungsanspruch für einen weiteren Sechs-Wochen-Zeitraum, wenn er vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate lang nicht infolge derselben Krankheit arbeitsunfähig war oder seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit eine Frist von zwölf Monaten abgelaufen ist. Arbeitnehmende müssen im Falle eines Streits über das Vorliegen einer Fortsetzungserkrankung offenlegen, welche Beschwerden welche Folgen für die Arbeitsfähigkeit hatten und sind zudem verpflichtet, die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden.
BAG Urteil vom 18.01.2023 - 5 AZR 93/22
Urlaubsabgeltung unterliegt der üblichen Verjährung
Gesetzlicher Urlaub, der - auch über mehrere Jahre hinweg - nicht genommen wurde, darf ohne vorherigen Hinweis des Arbeitgebers nicht verfallen und kann auch nicht einfach verjähren. Doch was ist mit den Urlaubsabgeltungsansprüchen? Diese verjähren gemäß § 195 BGB nach drei Jahren. Auch ohne Hinweis des Arbeitgebers beginnt die Frist in der Regel mit dem Ende des Jahres, in dem der oder die Beschäftigte das Unternehmen verlässt, entschied das BAG. Ausnahmen gelten nur für frühere Ansprüche vor der Änderung der Rechtsprechung zum Urlaubsverfall.
BAG Urteil vom 31.01.2023 - 9 AZR 456/20
Entgeltgleichheit von Männern und Frauen ist keine Verhandlungssache
Für gleiche oder gleichwertige Arbeit hat eine Frau Anspruch auf gleiches Entgelt, wenn der Arbeitgeber männlichen Kollegen aufgrund des Geschlechts ein höheres Entgelt zahlt. Dass es dem männlichen Kollegen gelungen ist, in den Gehaltsverhandlungen ein höheres Gehalt auszuhandeln, ändert daran nichts. Eine Entgeltbenachteiligung einer Frau aufgrund des Geschlechts wird nach § 22 AGG vermutet, wenn sie darlegt und beweist, dass ihr Arbeitgeber ihr trotz gleicher oder gleichwertiger Arbeit ein niedrigeres Entgelt zahlt als ihren vergleichbaren männlichen Kollegen.
BAG Urteil vom 16.02.2023 - 8 AZR 450/21
Bei regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit sind verschieden hohe Zuschläge zulässig
Tarifverträge dürfen für gelegentliche Nachtarbeit höhere Zuschläge vorsehen als für regelmäßige Nachtarbeit. Das hat das Bundesarbeitsgericht in einem Grundsatzurteil entschieden, nachdem zuvor der Europäische Gerichtshof verkündet hatte, dass die EU-Charta bei der Beurteilung dieser Streitfrage keine Anwendung findet und der Fall damit keine Frage des europäischen Rechts sei. Die Ungleichbehandlung muss laut BAG aber durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt sein.
BAG Urteil vom 22.02.2023 - 10 AZR 332/20
Kein Equal Pay für Leiharbeiter
Von dem Grundsatz, dass Leiharbeitnehmende für die Dauer ihrer Überlassung Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt wie vergleichbare festangestellte Beschäftigte des Entleihers haben ("equal pay"), kann nach § 8 Abs. 2 AÜG ein Tarifvertrag "nach unten" abweichen. Der Verleiher muss dem Leiharbeitnehmer also nur die niedrigere tarifliche Vergütung zahlen. Das ist allerdings nur dann gerechtfertigt, wenn der Tarifvertrag die niedrigere Bezahlung durch angemessene andere Vorteile kompensiert. Laut BAG ist der Gesamtschutz im Tarifvertrag unter anderem dadurch gewahrt, dass sowohl bei unbefristeten als auch bei befristeten Leiharbeitsverhältnissen die Fortzahlung des Entgelts auch in verleihfreien Zeiten stattfinde.
BAG Urteil vom 31.05.2023 - 5 AZR 143/19
Verfahrensfehler im Bewerbungsverfahren begründen eine Diskriminierung schwerbehinderter Bewerber
Arbeitgebern drohen Entschädigungszahlungen gemäß § 15 AGG, wenn sie Vorschriften, die dem Schutz von Schwerbehinderten dienen, ignorieren. Dafür kann es bereits ausreichen, dass ein abgelehnter Bewerber behauptet, der Arbeitgeber habe den Betriebsrat nicht den Vorgaben des § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX entsprechend über die Bewerbung unterrichtet. Da ein Bewerber als Außenstehender hierzu regelmäßig keinen Einblick hat und sich diesen auch zumutbar nicht verschaffen kann, muss er regelmäßig keine konkreten Anhaltspunkte für ein solches Versäumnis darlegen.
BAG Urteil vom 14.06.2023 - 8 AZR 136/22
Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist hoch
Legt ein gekündigter Arbeitnehmer eine Krankschreibung vor, die genau bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses reicht, mag das dem ein oder anderen Arbeitgeber verdächtig vorkommen (siehe dazu das weiter unten erwähnte Urteil vom 13. Dezember 2023). Einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt jedoch aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher Beweiswert zu. Um diesen zu erschüttern, muss ein Arbeitgeber konkrete Umstände aufzeigen, die geeignet sind, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu begründen. Der bloße Verdacht einer nicht ordnungsgemäßen Diagnose genügt ebenso wenig wie der Einwand, die arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit lasse sich auch trotz der diagnostizierten Erkrankung noch erbringen.
BAG Urteil vom 28.06.2023 - 5 AZR 335/22
Kein Verwertungsverbot für Videoaufzeichnungen aus offener Überwachung
Aufzeichnungen einer offenen Videoüberwachung dürfen im Kündigungsschutzprozess herangezogen werden, um vorsätzliches Fehlverhalten von Beschäftigten zu beweisen. Das gilt auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts steht.
BAG Urteil vom 29.06.2023 - 2 AZR 296/22
Arbeitnehmende dürfen SMS vom Chef in der Freizeit nicht automatisch ignorieren
Ein Arbeitnehmer kann auch in seiner Freizeit verpflichtet sein, eine SMS des Arbeitgebers zur Kenntnis zu nehmen. Dies ist dann der Fall, wenn dem Arbeitnehmer aufgrund betrieblicher Regelungen bekannt ist, dass der Arbeitgeber auf diese Weise die Arbeitsleistung für den Folgetag in Bezug auf Uhrzeit und Ort konkretisieren wird.
BAG Urteil vom 23.08.2023 - 5 AZR 349/22
Arbeit auf Abruf: Ohne vertragliche Regelung gelten 20 Wochenstunden als vereinbart
Wird bei Arbeit auf Abruf keine wöchentliche Arbeitszeit im Arbeitsvertrag vereinbart, greift die gesetzliche Regelung des § 12 Abs. 1 TzBfG. Nur in Ausnahmen kann davon abgewichen werden. Für die Annahme einer höheren Wochenarbeitszeit genügt es nicht, dass der Arbeitgeber dieses höhere Stundenkontingent innerhalb eines bestimmten Zeitraums regelmäßig abgerufen hat.
BAG Urteil vom 18.10.2023 - 5 AZR 22/23
Krankschreibung für die Dauer der Kündigungsfrist weckt Zweifel
Der Beweiswert ärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen kann erschüttert sein, wenn der arbeitsunfähige Arbeitnehmer nach Zugang der Kündigung dem Arbeitgeber eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfassen. Das gilt insbesondere dann, wenn der Arbeitnehmer unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt.
BAG Urteil vom 13.12.2023 - 5 AZR 137/23
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