Möglicherweise Direktanspruch missbräuchlich: Denkbar ist, dass sich aus den Feststellungen des EuGH ergibt, dass in dem Fall, dass L die Steuer im Steuerkorrekturverfahren erstattet bekommt, die Beträge aber nicht an LE zurückzahlt, zwar das Steuerkorrekturverfahren zulässig wäre, die spätere Geltendmachung eines Direktanspruchs durch LE aber wegen Missbräuchlichkeit nicht.

"First come, first served" (FG Düsseldorf): Das entspräche zumindest im Ergebnis der Sichtweise des FG Düsseldorf.[95] Dieses hatte über den Fall zu entscheiden, dass das FA des L – obwohl das Insolvenzverfahren über dessen Vermögen bereits eröffnet worden war – die Steuerkorrekturen durch den Insolvenzverwalter anerkannt[96] und die Steuerbeträge an die Masse erstattet hat. Da der LE aufgrund der Insolvenz diese MwSt-Beträge von L nicht zurückgezahlt bekam, machte er bei seinem FA einen Direktanspruch geltend. Das FG Düsseldorf lehnte diesen Anspruch in seinem Urteil vom 4.12.2020 mit der Begründung ab, der Fiskus sei nicht mehr um die (vom FA ausgezahlte) Mehrwertsteuer bereichert.[97]

Es wird kein ungerechtfertigter Steuervorteil angestrebt: Dieses Ergebnis kann allerdings schon aus systematischen Gründen nicht überzeugen. Insbesondere läge, anders als im vom EuGH entschiedenen Fall, kein Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität vor.[98] So wäre die Geltendmachung des Direktanspruchs durch LE nämlich nicht missbräuchlich. Schließlich bekäme er auf andere Weise die Beträge, mit denen er zu Unrecht belastet worden ist, nicht zurück. Mit seinem Direktanspruch würde er also nicht den Zweck verfolgen, einen ungerechtfertigten Steuervorteil zu erlangen.

Kompensation der zu Unrecht abgewälzten Steuerlast: LE würde mit seinem Antrag vielmehr den Zweck verfolgen, die Unvereinbarkeit der Abgabe mit dem Unionsrecht dadurch zu beheben, dass seine mit der Abgabe zu Unrecht auferlegte wirtschaftliche Belastung (er hat die Steuerlast im Endeffekt ja tatsächlich getragen), neutralisiert wird.[99] Anders gesagt: Genau für diese Situation, in der der LE die Steuerbelastung zu Unrecht getragen hat, sein Geld aber von L nicht mehr bekommen kann, hat der EuGH die Rechtsfigur des Direktanspruchs aus den mehrwertsteuerlichen Grundsätzen herausgearbeitet. LE soll eben keinen ungerechtfertigten Nachteil dadurch erleiden, dass er bzgl. der MwSt[100] derjenige ist, der die Zeche zahlt. Es wäre daher nicht verständlich, warum sein Anspruch aufgrund von Umständen entfallen sollte, auf die er keinerlei Einfluss hat.[101]

[96] In diesem Fall war "durch den Insolvenzverwalter [...] ein Berichtigungsantrag nach § 17 UStG [...] gestellt worden"; vgl. FG Düsseldorf v. 4.12.2020 – 1 K 1510/18 AO, juris Rz. 24. Was auch immer unter einem "Berichtigungsantrag" zu verstehen ist (vgl. oben VI.1.b)).
[97] So auch die Sichtweise in BMF v. 12.4.2022 – III C 2 - S 7358/20/10001 :004, UR 2022, 437 Rz. 17. Die Frage, ob das FA dem L die Steuer überhaupt hätte erstatten dürfen, ohne dass dieser die Beträge an LE zurückzahlte, umging das FG mit der (rechtlich eher zweifelhaften) Feststellung, der UStAE sei erst nach der Erstattung an L geändert worden und auch die entsprechende BFH-Rechtsprechung sei erst später ergangen. S. hierzu von Streit/Streit, MwStR 2023, 412 (414).
[98] Zum Neutralitätsgrundsatz vgl. EuGH v. 7.9.2023 – C-453/22 – Schütte, UR 2023, 758 Rz. 24 und 33.
[99] Vgl. dazu EuGH v. 7.9.2023 – C-453/22 – Schütte, UR 2023, 758 Rz. 20.
[100] Oder bzgl. anderer Steuern, die abgewälzt werden; vgl. z.B. EuGH v. 20.10.2011 – C-94/10 – Danfoss A/S und Sauer-Danfoss ApS, juris.
[101] Davon scheint auch der BFH auszugehen. Zumindest sagte er in dem Vorlagebeschluss vom 3.11.2022 nicht (wie das FG Düsseldorf; s. oben VII.2.), dass der Direktanspruch schon deswegen nicht bestehe, weil die Beträge bereits an den L erstattet worden seien. Vgl. BFH v. 3.11.2022 – XI R 6/21, UR 2023, 285.

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