Rz. 29

[Autor/Stand] Die Ansichten über die systematisch/dogmatische Begründung der Selbstanzeigeregelung gehen auseinander. Als Erklärungsansätze sind vor allem die steuerpolitische (Rz. 30 ff.), aber auch die kriminalpolitische (Rz. 38 ff.) Zielsetzung des § 371 AO zu nennen. Daneben ist fraglich, ob die "Ausnahmeregelung" des § 371 AO[2] sich an allgemeinen strafrechtlichen Prinzipien, wie sie beim Rücktritt oder der tätigen Reue bzw. beim Wiedergutmachungsgedanken zum Ausdruck kommen, messen lässt (Rz. 41 f.). Von der jeweiligen Sichtweise hängt es ab, ob die einzelnen Tatbestandsmerkmale des § 371 AO eher restriktiv oder extensiv auszulegen sind.

a) Steuerpolitische Zielsetzung

 

Rz. 30

[Autor/Stand] Indem Abs. 1 und Abs. 3 des § 371 AO den Eintritt der Straffreiheit grundsätzlich allein davon abhängig machen, dass der Täter seine Berichtigungserklärung abgibt und die hinterzogenen Steuern einschließlich Zinsen nachzahlt, und Abs. 2, der den Zeitpunkt bestimmt, von dem ab eine Selbstanzeige nicht mehr wirksam erstattet werden kann, als – wenn auch zunehmend weiter gefasste – Ausnahmebestimmung formuliert ist, bringt das Gesetz zum Ausdruck, worum es hier vor allem geht: um die nachträgliche Erfüllung der steuerlichen Pflichten, um die "Erschließung bisher verheimlichter Steuerquellen"[4]. Der Steuerhinterzieher soll motiviert werden, nachträglich seine steuerlichen Pflichten zu erfüllen, und damit auch das staatliche Steueraufkommen mehren.[5] Hintergrund sind insoweit fiskalische Interessen.[6]

aa) Anreizfunktion

 

Rz. 31

[Autor/Stand] Das Gesetz bedient sich in § 371 AO eines Mittels, das in seiner Tendenz der – auf das gleiche Ziel gerichteten – Strafandrohung geradezu zu widersprechen scheint. Um dem Täter einen Anreiz zur Selbstanzeige zu geben, bietet es ihm – unter Zurückstellung der an sich geltenden Strafdrohung – Straffreiheit für den Fall seiner vollständigen Mitwirkung und damit einen u.U. sehr bedeutsamen Vorteil an. Die Entstehungsgeschichte lässt das ursprüngliche Bestreben des Gesetzgebers erkennen, dem selbstanzeigewilligen Täter durch eine – jedenfalls bis zur Neufassung des § 371 AO durch das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz – entsprechend klare Tatbestandsfassung und Herabsetzung der rechtlichen Anforderungen, die Bedingungen für eine Selbstanzeige soweit wie möglich zu erleichtern. Hierdurch sollte der Anreiz verstärkt werden, dass er die gesetzlichen Voraussetzungen der Selbstanzeige erfüllt. Die Verschärfungen der Selbstanzeige in den Jahren 2011 und 2015 und die damit verbundene Erhöhung der Wirksamkeitsanforderungen an Selbstanzeigen haben zwar die Hürde für eine wirksame Selbstanzeige höher gesetzt. Gleichwohl ist die Selbstanzeige auch weiterhin ein wichtiges Instrument für den Täter, Straffreiheit zu erlangen.

bb) Verzicht auf Freiwilligkeit

 

Rz. 32

[Autor/Stand] Durch die Objektivierung der (positiven und negativen) Wirksamkeitsvoraussetzungen in § 371 AO ist klargestellt, dass die Gewährung der Straffreiheit an keine subjektiven Voraussetzungen geknüpft ist (näher dazu Rz. 54, 148, 388, 403, 418 ff.)[9]. Sie muss insb. auch nicht freiwillig erfolgen.[10] Das entspricht dem Prinzip der Rechtssicherheit (s. Rz. 417, 494, 556 ff.). Aus welchen Motiven die Selbstanzeige erfolgt – ob aus Reue oder freiwillig – ist unerheblich. Aufgrund der abschließend umschriebenen, objektivierten Voraussetzungen der Ausschlussgründe in Abs. 2 können somit in erheblichem Umfang auch solche Steuerhinterzieher Straffreiheit erlangen, die wegen einer vermeintlichen oder tatsächlichen Entdeckungsgefahr und damit "unfreiwillig" Selbstanzeige erstatten.

 

Rz. 33

[Autor/Stand] Einen derart weitgehenden Verzicht auf das Merkmal der Freiwilligkeit sahen die Vorläufervorschriften des § 371 AO nicht schon seit jeher vor (s. Rz. 5 ff.). Dass in § 371 AO entgegen früherer Regelung die Berichtigungserklärung nicht davon abhängig gemacht wurde, dass sie aus "freien Stücken" erfolgte, findet seine Erklärung in der erwähnten Anreizfunktion, die § 371 AO auf den Täter ausüben soll.

 

Rz. 34

[Autor/Stand] Würde der Gesetzgeber die Wirksamkeit einer Selbstanzeige von der Voraussetzung der Freiwilligkeit abhängig machen, so würde dieses Rechtsinstitut mit einer Reihe von weiteren Unsicherheitsfaktoren belastet. Denn ob jemand eine Selbstanzeige unfreiwillig (vgl. dazu die Ausführungen zum Rücktritt vom Versuch § 370 Rz. 731 ff.) erstattet, ist vor allem eine Wertungsfrage, deren Beantwortung noch dadurch erschwert wird, dass sie eine genaue Erforschung der Handlungsmotive des Täters voraussetzt. Die Unsicherheit, die sich hier bei der Anwendung des § 371 AO ergäbe, würde sich leicht auf potentielle selbstanzeigewillige Täter übertragen und sich für eine Entscheidung zugunsten der Selbstanzeige als Hemmschuh erweisen. In den Überlegungen des Täters, ob er eine Selbstanzeige erstatten soll, spielt die Frage, ob er mit Sicherheit Straffreiheit erwarten kann, nämlich eine ausschlaggebende Rolle.

 

Rz. 35

[Autor/Stand] Um das Risiko für den s...

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