Rz. 304

[Autor/Stand] Die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens spielt bei § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO dann eine Rolle, wenn sich der Unterlassungstäter bei pflichtgemäßer Offenbarung der steuerlich erheblichen Tatsachen der Gefahr der Selbstbezichtigung und Strafverfolgung wegen Steuerhinterziehung oder anderer Delikte aussetzen würde[2]. Denn es ist allgemein anerkannt, dass niemand dazu gezwungen werden darf, sich strafrechtlich selbst zu belasten (nemo tenetur se ipsum accusare, s. § 393 Rz. 16 f., 106 ff.). Dieses Verbot von Zwang zur Selbstbelastung leitet das BVerfG aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ab[3]; es wird vom EGMR[4] in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankert und ist zudem in Art. 14 Abs. 3 Buchst. g des Internationalen Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte aufgenommen worden, der in der Bundesrepublik zumindest einfachgesetzlich gilt. In der U.S.-amerikanischen bill of rights ist das Recht, frei von Zwang zur strafrechtlichen Selbstbelastung zu sein, ausdrücklich im 5. Zusatzartikel kodifiziert[5].

"Die Aussagefreiheit des Beschuldigten und das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung (nemo tenetur se ipsum accusare) sind notwendiger Ausdruck einer auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde beruhenden rechtsstaatlichen Grundhaltung (vgl. BVerfG v. 8.10.1974 – 2 BvR 747/73, BVerfGE 38, 105 [113 ff.]; BVerfG v. 22.10.1980 – 2 BvR 1172/79, BVerfGE 55, 144 [150 f.]; BVerfG v. 13.1.1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37 [43]). Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ist im Rechtsstaatsprinzip verankert und hat Verfassungsrang (vgl. BVerfG v. 8.10.1974 – 2 BvR 747/73, BVerfGE 38, 105 [113 f.]; BVerfG v. 22.10.1980 – 2 BvR 1172/79, BVerfGE 55, 144 [150 f.]; BVerfG v. 13.1.1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37 [43]; BVerfG v. 14.1.2004 – 2 BvR 564/95, BVerfGE 110, 1 [31]). [...] Der Beschuldigte muss frei von Zwang eigenverantwortlich entscheiden können, ob und gegebenenfalls inwieweit er im Strafverfahren mitwirkt (vgl. BVerfG v. 8.10.1974 – 2 BvR 747/73, BVerfGE 38, 105 [113]; BVerfG v. 13.1.1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37 [43])."[6]

"Die Rechte, sich nicht selbst zu beschuldigen und zu schweigen, sind international allgemein anerkannte Grundsätze, die ein Kernstück des in Art. 6 EMRK garantierten fairen Verfahrens sind. Sie sollen insbesondere den Angeklagten vor unzulässigem Zwang durch die Behörden schützen, und sie tragen zugleich dazu bei, Fehlurteile zu vermeiden und die von Art. 6 EMRK gewünschten Ergebnisse zu gewährleisten (s. EGMR Slg. 1996-I, S. 49 Nr. 45 = ÖJZ 1996, 627 – John Murray/Vereinigtes Königreich). Das Recht, sich nicht selbst zu beschuldigen, betrifft vorrangig die Achtung des Willens einer beschuldigten Person zu schweigen und setzt voraus, dass die Anklage versuchen muss, ihre Behauptungen in einer Strafsache zu beweisen, ohne auf Beweise zurückgreifen zu müssen, die durch Zwang oder Druck gegen den Willen des Beschuldigten erlangt worden sind (s. EGMR Slg. 1996-VI, S. 2064–2065 Nr. 68, 69 = ÖJZ 1998, 32 – Saunders/Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 2002-IX Nr. 44 = JR 2004, 127 – Allan/Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 2006-IX Nr. 94–117 = NJW 2006, 3117 – Jalloh/Deutschland; EGMR, Slg. 2007-VIII Nr. 53–63 = NJW 2008, 3549 – O’Halloran u. Francis/Vereinigtes Königreich). Bei der Prüfung, ob ein Verfahren den Wesensgehalt des Rechts, sich nicht selbst zu beschuldigen, angetastet hat, berücksichtigt der Gerichtshof Art und Grad des Zwangs, das Vorhandensein angemessener Verfahrensgarantien und wozu gewonnene Beweise verwendet worden sind (s. z.B. EGMR Slg. 2000-XII Nr. 54–55 – Heaney u. McGuinness/Irland; EGMR, Slg. 2001-III – J.B./Schweiz)."[7]

 

Rz. 305

[Autor/Stand] Aus dieser verfassungs- und internationalrechtlichen Anerkennung des Grundsatzes folgt, dass aus dem Zwangsmittelverbot des § 393 Abs. 1 Satz 2 AO keine verbindlichen Rückschlüsse auf den Umfang des durch den Nemo-tenetur-Grundsatz gewährten Schutzes gezogen werden können, die Norm also keine abschließende Regelung enthält[9] (s. § 393 Rz. 24). Zwar sind nach dem Wortlaut des § 393 AO im Besteuerungsverfahren nur Zwangsmittel nach § 328 AO unzulässig, wenn dadurch der Stpfl. gezwungen würde, sich selbst wegen einer von ihm begangenen Steuerstraftat zu belasten. Verfassungsrechtlich ist aber jeglicher Zwang zur Selbstbelastung potentiell unzulässig (s. aber auch Rz. 305.1 f.). Daraus folgt prinzipiell, dass auch durch die Androhung von Strafe (ggf. unzulässiger) Zwang zur Selbstbelastung entstehen kann, wenn nämlich durch die Erfüllung der im Fall der Zuwiderhandlung mit Strafe sanktionierten steuerlichen Pflichten eine strafrechtliche Selbstbelastung erfolgen würde. Verfassungsrechtlich ist ebenso wenig zwischen dem Zwang, sich wegen einer Steuer- oder wegen einer anderen Straftat selbst belasten zu müssen, zu unterscheiden. Es geht um das Dilemma, sich entweder selbst strafrechtlich belasten oder aber den Zwang hinnehmen zu müssen[10].

 

Beispiel 64

(s. auch § 393 Rz. 208, 240 ff.): A erklärt illegale Einkünf...

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