Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindergeldanspruch: Anforderungen an den Nachweis einer Behinderung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Finanzgericht hat im Rahmen einer Gesamtwürdigung etwa auf der Grundlage vorliegender ärztlicher Beurteilungen die Rechtsfrage zu entscheiden, ob eine Behinderung im Sinne des § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG besteht. Dabei kommt es darauf an, ob eine Behinderung im Sinne der maßgeblichen Legaldefinition des § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX vorliegt.

2. Die Form des Nachweises der Behinderung ist nicht gesetzlich geregelt. Auch die in der DA-KG 2022 A 19.2 formulierten Möglichkeiten des Nachweises der Behinderung können nicht abschließend vorgeben, wie der Nachweis der Behinderung zu erbringen ist.

3. Auch ohne eine Verwendung des Begriffes Behinderung in einer ärztlichen Bescheinigung oder einem Gutachten ist gleichwohl zu prüfen, ob aufgrund der vorliegenden ärztlichen Bescheinigungen bzw. Gutachten mit der für die gerichtliche Entscheidungsfindung erforderlichen Sicherheit auf eine Behinderung im Sinne der oben genannten Legaldefinition zu schließen ist.

4. Nur ein solches Verständnis der Anforderungen an den Nachweis einer Behinderung steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des BFH zur Abgrenzung zwischen der Berücksichtigung von Kindern bei krankheitsbedingter Hinderung an der Durchführung einer Ausbildung oder Suche nach einem Ausbildungsplatz einerseits und den Fällen behinderter Kinder andererseits, in denen der BFH eine Abgrenzung ausschließlich danach vornimmt, ob die gesundheitliche Beeinträchtigung regelmäßig mit hoher Wahrscheinlichkeit prognostisch nicht länger als sechs Monate oder aber mehr als sechs Monate dauert (BFH-Urteile vom 31. August 2021, III R 41/19; vom 7. Oktober 2021, III R 48/19; vom 15. Dezember 2021, III R 43/20).

5. Im Streitfall führte die Auswertung von amtsärztlichen Gesundheitszeugnissen und Gutachten eines Sozialmedizinischen Dienstes auch ohne das Vorliegen von Bescheinigungen eines behandelnden Arztes und trotz erst spät im Verfahrensverlauf erfolgter Feststellung eines Grades der Behinderung zur Überzeugung des Senates vom Vorliegen einer Behinderung und deren Eintritt bereits vor Vollendung des 25. Lebensjahres.

 

Normenkette

EStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3; SGB IX § 2 Abs. 1 S. 1

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin für das Kind A, geboren ... 1987, einen Kindergeldanspruch für den Zeitraum Februar bis Mai 2022 hat.

Das Kind A beabsichtigte zunächst, eine Berufsausbildung zu machen. Sie wurde jedoch zum 22. Juni 2007 aus der Arbeitsvermittlung und zum 23. Januar 2007 aus der Berufsberatung abgemeldet. Im September 2007 erklärte sie gegenüber der damals zuständigen Familienkasse B, zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Beendigung ihrer Erkrankung eine Ausbildung aufzunehmen.

Das Kind A leidet zumindest seit dem Jahr 2009 an seelischen Beeinträchtigungen, über die Gesundheitszeugnisse der beim Landkreis C tätigen Amtsärzte sowie eine sozialmedizinische Begutachtung des sozialmedizinischen Dienstes D vorliegen. Ärztliche Bescheinigungen eines behandelnden Arztes liegen nicht vor. Die Feststellung eines Grades der Behinderung hat das Kind A erst im Verlauf des Jahres 2023 während des gerichtlichen Verfahrens beantragt. Das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie hat hierauf mit Feststellungsbescheid vom 9. August 2023 entschieden, dass ab 10. Juni 2021 der Grad der Behinderung (GdB) 30 beträgt; die beantragte rückwirkende Feststellung wurde abgelehnt, da die Ausmaße erst seit dem 10. Juni 2021 nachgewiesen seien.

Das von der im Gesundheitsamt des Landkreises C tätigen Ärztin Dr. E erstellte Gesundheitszeugnis vom 11. Februar 2009 enthält folgende Angaben:

Nach einer umfänglichen Untersuchung und Begutachtung vom 10. Februar 2009 zum Untersuchungsgrund Erwerbsunfähigkeit nach § 8 Sozialgesetzbuch (SGB) II wurde als Ergebnis der Untersuchung festgestellt, dass eine eingeschränkte Erwerbsfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes von unter 3 Stunden täglich für mehr als 6 Monate bestand. Gesundheitliche Einschränkungen waren mit Angsterkrankung, sozialem Rückzug, Erwartungsängsten und Vermeidungsverhalten sowie depressiver Grundstimmung bei bestehender schwerer Selbstwertproblematik angegeben. Zudem war festgehalten, dass das Kind A nicht mindestens 15 Wochenstunden auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten kann und dass sie weitgehend unverändert zur Voruntersuchung an einer Angsterkrankung leidet, die auch weiterhin noch keine Leistungsfähigkeit ermöglicht. Eine Nachbegutachtung wurde in einem Jahr (Februar 2010) empfohlen.

Das von derselben Ärztin erstellte Gesundheitszeugnis vom 24. Februar 2010 aufgrund einer Untersuchung am 16. Februar 2010 zur Erwerbsfähigkeit nach § 8 SGB II enthielt dieselben Feststellungen und empfahl eine Nachbegutachtung in einem Jahr (Februar 2011).

Das von der im Gesundheitsamt des Landkreises C tätigen Amtsärztin F erstellte Gesundheitszeugnis vom 24. Februar 2011 aufgrund einer Untersuchung am selbe...

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