EuGH verfügt partielles Ende des ewigen Widerrufsrechts

Ein Kuriosum der deutschen Rechtswirklichkeit, das ewige Widerrufsrecht u.a. bei Kreditverträgen im Fall einer fehlerhaften Widerrufsbelehrung, ist zum Leidwesen der Verbraucher für im Fernabsatz geschlossene Verträge in der Zeit nach vollständiger Vertragserfüllung Vergangenheit.

Eine Entscheidung des BGH aus dem Jahr 2016 war die Grundlage dafür, dass Verbrauchern bei einer großen Zahl von in der Vergangenheit abgeschlossen Kreditverträgen praktisch ein ewiges Widerrufsrecht zugestanden wurde. Ist eine Widerrufsbelehrung in einem Verbraucherkreditvertrag fehlerhaft, so beginnt nach dem Urteil des BGH die Widerrufsfrist gemäß § 355 Abs. 2 BGB erst gar nicht zu laufen (BGH, Urteil v.12.7.2016, XI ZR 564/15).

Widerruf komplett abgewickelter Kreditverträge noch nach vielen Jahren möglich

Nach dieser Rechtsprechung können Kreditverträge bei fehlerhafter Widerrufsbelehrung - und die waren in der Vergangenheit insbesondere bei Banken häufig fehlerhaft - auch nach vielen Jahren noch widerrufen werden, selbst wenn der Kreditvertrag schon vollständig abgewickelt ist. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des BGH gewähren die Instanzgerichte - beispielsweise beim finanzierten Autokauf - Autokäufern auch nach mehrjähriger Nutzung eines Fahrzeugs noch ein Recht zum Widerruf (LG Berlin, Urteil v. 5.12. 2017, 4 O 150/16; LG Ravensburg, Urteil v. 30.7. 2019, 2 O 90/90).

EuGH beanstandet deutsche Rechtspraxis

Dieser Rechtsprechung hat der EuGH nun zumindest für im Fernabsatz geschlossene Kreditverträge in den Fällen ein Ende bereitet, in denen der Vertrag auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers bereits komplett abgewickelt wurde. Gegenstand der Entscheidung waren zwei Verbraucherklagen vor dem LG Bonn, die im Jahr 2007 ein Darlehen zum Zwecke einer Immobilienfinanzierung bei der DSL Bank im Wege des Fernabsatzes aufgenommen hatten. In Anlehnung an eine EU-Regelung enthielt die Widerrufsbelehrung der DSL-Bank den Hinweis, dass das Widerrufsrecht vorzeitig erlischt, sobald der Vertrag vollständig erfüllt ist und der Darlehensnehmer dem ausdrücklich zugestimmt hat.  

Widerruf neun Jahre nach Vertragsabschluss

Nahezu neun Jahre später erklärten die Darlehensnehmer den Widerruf des Kreditvertrages und stützen diesen auf eine nach ihrer Auffassung fehlerhafte Widerrufsbelehrung. Der Vertrag selbst war zum Zeitpunkt des Widerrufs bereits von beiden Seiten vollständig erfüllt und abgewickelt. Der bei Anwendung der Rechtsprechung des BGH zulässige nachträgliche Widerruf hätte den Darlehensnehmern Zahlungsansprüche gegen die Bank in erheblicher Höhe, u.a. auf Erstattung gezahlter Zinsen, gebracht.

LG bezweifelt Vereinbarkeit der BGH-Rechtsprechung mit EU-Recht

Das LG Bonn war mit der bisherigen Rechtsprechung des BGH in dieser Frage nicht einverstanden und hatte insbesondere Zweifel, ob diese Rechtsprechung mit der EU-Richtlinie 2002/65 zum Fernabsatz von Finanzdienstleistungen vereinbar ist. Art 4 Abs. 2, Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie bestimmen ausdrücklich, dass die Mitgliedstaaten rechtliche Regelungen schaffen müssen, wonach Verbraucher innerhalb einer Frist von 14 Kalendertagen im Fernabsatz geschlossene Verbraucherverträge über Finanzdienstleistungen ohne Grund widerrufen können. Ausgeschlossen ist gemäß Art 6 Abs. 2c der Richtlinie der Widerruf für den Fall, dass der Vertrag auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers von beiden Seiten bereits voll erfüllt wurde, bevor der Verbraucher sein Widerrufsrecht ausgeübt hat.

BGH-Rechtsprechung mit Unionsrecht nicht vereinbar

Die in Deutschland inzwischen gängige Rechtsprechung, auch für im Fernabsatz geschlossene Kreditverträge das Widerrufsrecht bei fehlerhafter Widerrufsbelehrung nahezu endlos weiter bestehen zu lassen (Ausnahme: Rechtsmissbrauch), bewertete nun der EuGH als mit der EU-Richtlinie nicht vereinbar. Der EuGH sieht keinen vernünftigen Grund, weshalb im Fernabsatz ein Widerrufsrecht nicht erlöschen soll, wenn der Vertrag zuvor bereits auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers voll erfüllt wurde. Aus Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2002/65 gehe im übrigen hervor, dass die Richtlinie eine grundsätzliche Vollharmonisierung der von ihr geregelten Aspekte innerhalb der Mitgliedsländer bewirken soll. Abweichende nationale Regelungen in diesem Bereich seien unzulässig. Die Richtlinie enthalte keine Bestimmung, nach der ein Mitgliedstaat befugt wäre, in seinem nationalen Recht vorzusehen, dass der Verbraucher auch dann noch über ein Widerrufsrecht verfügt, wenn der Vertrag auf seinen ausdrücklichen Wunsch von beiden Seiten bereits voll erfüllt wurde.

Deutsches Recht ist unionsrechtskonform auszulegen

Die deutschen Gerichte sind nach dem Diktum des EuGH gehalten, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung anerkannter Auslegungsmethoden zu einer unionsrechtskonformen Auslegung der deutschen Vorschriften zu gelangen (EuGH, Urteil v. 8.5.2019, C-566/17). Eine bereits gefestigte anderslautende nationale Rechtsprechung sei gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Unionsrechts abzuändern.

Die Widerrufsbelehrung der DSL-Bank war nicht fehlerhaft

Vor diesem Hintergrund stand nach dem Diktum des EuGH auch die Belehrung des Verbrauchers durch die DSL Bank dahingehend, dass das Widerrufsrecht nach einvernehmlicher und vollständiger beiderseitige Erfüllung der gegenseitigen Vertragspflichten nicht mehr besteht, zwar im Widerspruch zur deutschen Rechtspraxis, war unter europarechtlichen Gesichtspunkten im Ergebnis aber rechtlich zutreffend. Die Widerrufsbelehrung sei auch für einen normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher ohne weiteres verständlich und daher auch nicht fehlerhaft gewesen.


Ergebnis: Das Kuriosum des ewigen Widerrufsrechts wird mit dieser Entscheidung bei im Fernabsatz geschlossenen Verbraucherkreditverträgen partiell aus der deutschen Rechtswirklichkeit verschwinden. Die Kreditinstitute wird es freuen. Dennoch müssen Verbraucher sich nicht grämen. Die durch den EuGH vorgegebene Beschränkung des Widerrufsrechts betrifft nur die Extremfälle, in denen der Vertrag bereits vollständig abgewickelt wurde. Die vor vollständiger Vertragsabwicklung abgegebenen Widerrufserklärungen sind von der Entscheidung nicht betroffen.

(EuGH, Urteil v. 11.9.2019, C-143/18)