§ 12 BORA: Umgehungsverbot um Schutz der Gegenpartei

Schreibt der Anwalt unter Umgehung des gegnerischen Anwalts an die Gegenseite, verstößt er gegen § 12 BORA. Geschieht dies auf Bitten des eigenen Mandanten, ändert dies nichts an dem Berufsrechtsverstoß. Unerheblich ist auch, ob er die Kontaktaufnahme fahrlässig veranlasst hat.

Das Umgehungsverbot aus § 12 Abs. 1 BORA untersagt es einem Rechtsanwalt, sich in einem Rechtsstreit an einen Beteiligten zu wenden, wenn dieser anderweitig anwaltlich vertreten ist. Dies geht so weit, dass der Rechtsanwalt auch auf entsprechende Alleingänge seiner Partei zu achten hat.

§ 12 BORA: Anwalt­li­ches Umge­hungs­verbot zum Schutz der Gegen­partei

„Das Verbot der Umge­hung des Gegen­an­walts aus § 12 BORA ist Ausdruck des Grundsatzes des „fair play“ und soll die jewei­lige Gegen­partei davor schützen, unter Umdrib­beln ihres Rechts­bei­standes beein­flusst zu werden oder ohne seinen Rat Wil­lens­er­klä­rungen abzu­geben.“

In einem bereits im Jahr 2015 vom BGH entschiedenen Fall hat dieser die wesentlichen, auch heute noch aktuellen Grundsätze zum Umgehungsverbot nach § 12 BORA zusammengefasst. Eine Kanzlei, die von einem Ehepaar mit der Wahrnehmung ihrer rechtlichen Interessen in einem Mietverhältnis beauftragt worden war, geriet mit dieser Vorschrift in Konflikt.

Direkte Zustellung an die Gegenpartei: Anwalt verstößt gegen Berufsrecht

Im Laufe des Rechtsstreits kam es zu einem Beratungstermin der Eheleute in der Kanzlei. Daraufhin wurde auf im Einzelnen ungeklärte Weise ein Schreiben direkt an die Vermieterin gesandt.

  • Auf diesem Schreiben war im Betreff eine Rechtsanwältin als Sachbearbeiterin angegeben, die das Schreiben auch unterzeichnet hatte.
  • Das Schreiben war auch von einem weiteren Rechtsanwalt unterzeichnet, allerdings mit einem Faksimile-Stempel.

Die zuständige Rechtsanwaltskammer erteilte dem Rechtsanwalt einen belehrenden Hinweis wegen Verstoßes gegen § 12 BORA.

§ 12 BORA verbietet direktes Kontaktieren des gegnerischen Mandanten

Zu Recht, wie zunächst der Anwaltsgerichtshof Sachsen und später auch der Bundesgerichtshof entschieden haben. Nach § 12 BORA darf der Rechtsanwalt ohne Einwilligung des Rechtsanwalts eines anderen Beteiligten mit diesem nicht unmittelbar kommunizieren oder verhandeln. Der Gegner soll nicht überrumpelt und zu übereilten, für ihn rechtlich nachteiligen Erklärungen veranlasst werden.

  • Dieses Verbot gilt gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 BORA nicht bei Gefahr im Verzug.
  • In diesem Fall ist der Rechtsanwalt des anderen Beteiligten gemäß § 12 Abs. 2 Satz 2 BORA unverzüglich zu unterrichten;
  • von schriftlichen Mitteilungen ist ihm unverzüglich eine Abschrift zu übersenden.

All das hat die Kanzlei im vorliegenden Fall nicht getan. Das haben ihr die Richter aus Sachsen und vom BGH übel genommen. Denn das Umgehungsverbot soll den Gegner davor schützen, vom gegnerischen Anwalt überraschend persönlich angesprochen oder in Unkenntnis der bestehenden Rechtslage ohne anwaltlichen Rat zu nachteiligen Erklärungen veranlasst zu werden.

Unkenntnis des Anwalts vom Verstoß gegen das Umgehungsverbot ist unerheblich

Das Umgehungsverbot gelte selbst dann, wenn sich die Gegenseite unter Ausschluss des eigenen Anwalts an die Gegenseite wendet. Dass der Anwalt im vorliegenden Fall möglicherweise keine Kenntnis von der Versendung des Schreibens an die Gegenseite hatte, hielt der BGH für unerheblich.

  • Denn die Gegen­partei habe auf­grund der Fak­si­mile-Unter­schrift nicht erkennen können, dass das Schreiben ohne oder gegen den Willen des Anwalts ver­sendet wurde.
  • Auf eine rechts­ge­schäft­liche Erklä­rung im engeren Sinn sei es nicht ange­kommen. Darauf stelle auch § 12 BORA nicht ab, sondern nur auf die Umstände der Umge­hung.
  • Ein Verstoß gegen das Umgehungsverbot kann nach der Entscheidung des BGH auch fahrlässig begangen werden.
  • Den Anwalt trifft ein Organisationsverschulden, wenn – wie im konkreten Fall – in seinem Büro ein Faksimilestempel für seine Unterschrift verwendet wird und Schreiben ohne seine Kontrolle das Büro verlassen können.

Sowohl der AGH Sachsen als auch der BGH hielten deshalb den von der Anwaltskammer erteilten beleh­renden Hinweis für ange­messen und recht­mäßig (AGH Sachsen, Urteil v. 27.2.2015, AGH 19/13: BGH, Urteil v. 26.10.2015, AnwZ 25/15).

Hin­ter­grund: 

Der Vorwurf eines Verstoßes gegen § 12 BORA ist ein häufig bei den Rechtsanwaltskammern angezeigter berufsrechtlicher Verstoß.  Das Verbot der Umgehung des Gegenanwalts dient in erster Linie dem Schutz der Gegenpartei.

Das Verbot, ohne Einwilligung des Rechtsanwalts einer anderen Partei mit diesem unmittelbar Kontakt aufzunehmen oder zu verhandeln, beeinträchtigt den betroffenen Rechtsanwalt in seiner Berufsausübung, da er gezwungen ist, Gespräche und Verhandlungen stets mit dem gegnerischen Rechtsanwalt zu führen, es sei denn, der gegnerische Rechtsanwalt stimmt einer abweichenden Verfahrensweise zu. Eine solche Regelung ist nur zulässig, soweit sie durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt ist und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht.

Diesen Anforderungen wird § 12 Abs. 1 BORA gerecht. Das Verbot der Umgehung des Gegenanwalts dient vor allem dem Schutz des anwaltlich vertretenen gegnerischen Mandanten und damit dem Gemeinwohlinteresse an der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und an einem fairen Verfahren (BVerfG, Beschluss v. 12.7.2001, 1 BvR 2272/00).

Umgehungsverbot auch für anwaltliche Insolvenzverwalter

Nach einer Entscheidung des BGH gilt das Verbot auch für Rechtsanwälte, die als Insolvenzverwalter tätig werden. Dies ergebe sich aus dem vom Gesetzgeber bezweckten effektiven Schutz der anwaltlich vertretenen Gegenpartei, die im Zweifel nicht unterscheiden könne, in welcher Eigenschaft ein Rechtsanwalt auftrete (BGH, Urteil v. 6.7.2015, AnwZ 24/14). Daher müssen auch Syndikusanwälte das Umgehungsverbot beachten.

Umgehungsverbot auch innerhalb der EU

Auf europäischer Ebene findet § 12 BORA eine Entsprechung in den Berufsregeln der Rechtsanwälte der Europäischen Union (CCBE). Danach ist es dem Rechtsanwalt untersagt, sich in einer bestimmten Sache mit einer Person in Verbindung zu setzen, von der er weiß, dass sie anwaltlich vertreten ist. Auch in diesem Fall ist der Rechtsanwalt verpflichtet, den gegnerischen Rechtsvertreter sofort zu informieren, sobald er den Verstoß bemerkt.

Bei Häufung von Verstößen droht anwaltsgerichtliches Verfahren

Bei einer Häufung von Verstößen gegen § 12 BORA ist neben einer Rüge durch die zuständige Rechtsanwaltskammer auch die Einleitung eines anwaltsgerichtlichen Verfahrens möglich. Das Anwaltsgericht kann berufsrechtliche Maßnahmen, insbesondere Geldbuße und Vertretungsverbot, verhängen.