Rn 56

An ein unzuständiges Gericht gelangte Rechtsmittelschriften müssen iRd üblichen Verfahrens an das zuständige Gericht weitergeleitet werden; dies gilt insb für leicht erkennbare Irrläufer (BVerfG NJW 02, 3692 [BVerfG 02.09.2002 - 1 BvR 476/01]; ähnl BGH MDR 22, 261 [BGH 09.12.2021 - V ZB 12/21] Rz 7; NZM 11, 722 [BGH 20.04.2011 - VII ZB 78/09]: jew zum örtlich unzuständigen Berufungsgericht sowie BGH NJW 11, 3240 [BGH 17.08.2011 - XII ZB 50/11] bei Verstoß gegen § 64 FamFG). Das gleiche gilt nach dem Gedanken einer fortwirkenden Fürsorgepflicht, wenn das zu Unrecht angegangene Gericht zuvor mit der Sache befasst war (BGH NJW 98, 908 [BGH 01.12.1997 - II ZR 85/97]). Ein die Wiedereinsetzung gebietendes Mitverschulden des Gerichts liegt auch vor, wenn das Gericht den RA auf erkannte Bedenken wegen fehlender funktioneller Zuständigkeit nicht hinweist (BGH NJW 11, 683 [BGH 14.12.2010 - VIII ZB 20/09]) Bei einer Berufungsschrift, die schon vor Zustellung des landgerichtlichen Urteils an dieses gerichtet wird, kann der Rechtsmittelführer auf die rechtzeitige Weiterleitung vertrauen, auch wenn ihm zwischenzeitlich die falsche Adressierung auffällt (BGHR 07, 981). Eröffnet ein Gericht die Möglichkeit der Weiterleitung von Schriftstücken an das zuständige Gericht, so genügt der Anwalt seinen Sorgfaltspflichten bereits dann, wenn er einen fristgebundenen Schriftsatz so rechtzeitig abgibt, dass er einen fristgemäßen Eingang beim zuständigen Gericht mit Sicherheit erwarten darf (BGH MDR 17, 722). Bei Einreichung eines Verlängerungsantrags für die Berufungsbegründung beim unzuständigen LG darf der Rechtsmittelführer darauf vertrauen, dass innerhalb von 5 Arbeitstagen eine Weiterleitung an das zuständige OLG erfolgt (BGH NJW 06, 3499 [BGH 03.07.2006 - II ZB 24/05]). Auf die besondere Rechtsmittelzuständigkeit nach § 72 II GVG darf der RA nicht schon deshalb vertrauen, weil das angefochtene Urteil als WEG-Sache bezeichnet ist (BGH NJW 11, 3306 [BGH 14.07.2011 - V ZB 67/11]).

 

Rn 57

Allerdings geht das Gebot fairen Verfahrens nicht so weit, dass das angegangene Berufungsgericht verpflichtet wäre, unmittelbar nach Eingang einer Rechtsmittelschrift seine Zuständigkeit zu prüfen, um den Rechtsmittelführer auf etwaige Versäumnisse aufmerksam zu machen (BGH MDR 22, 390 [BGH 11.01.2022 - VIII ZB 37/21] Rz 13; NJW 05, 3776 [BGH 05.10.2005 - VIII ZB 125/04]). Die Praxis eines Landgerichts, eingehende Berufungen zunächst lediglich durch die Geschäftsstelle zu erfassen und erst nach Eingang der Berufungsbegründung einer richterlichen Zuständigkeitsprüfung zu unterziehen, ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden und begründet keinen Wiedereinsetzungsgrund (BVerfG NJW 06, 1579 [BVerfG 17.01.2006 - 1 BvR 2558/05]). Solange die Akte im ordnungsgemäßen Geschäftsgang dem Richter noch nicht vorgelegen hat, liegt gerichtliches Mitverschulden nur vor, wenn die Unzuständigkeit für die Geschäftsstelle leicht erkennbar war und die Weiterleitung deshalb erwartet werden konnte (BGH NJW 12, 78 [BGH 12.10.2011 - IV ZB 17/10]). Besondere Maßnahmen (Hinweis per Telefon oder Telefax auf die fehlerhafte Rechtsmitteleinlegung) muss das Gericht nicht ergreifen, auch wenn es zuvor mit der Sache befasst war (BVerfG NJW 01, 1343 [BVerfG 03.01.2001 - 1 BvR 2147/00]). Der normale Geschäftsgang muss nicht darauf eingerichtet sein, fehlgeleitete Schriftstücke besonders frühzeitig zu entdecken und weiterzuleiten (BGH NJW-RR 07, 1429 [BGH 04.04.2007 - III ZB 109/06]). Dass eine fristgemäße Weiterleitung an das zuständige Gericht zu erwarten war, hat der Wiedereinsetzung begehrende Antragsteller darzulegen und glaubhaft zu machen (BGH NJW-RR 05, 1373 [BGH 06.06.2005 - II ZB 9/04]). Enthält ein Fristverlängerungsantrag ein offenbares Schreibversehen (Fristablauf 19.3., beantragte Verlängerung versehentlich bis 15.3. statt 15.4.) kann dies unter dem Gesichtspunkt fairen Verfahrens trotz Anwaltsverschulden die Wiedereinsetzung rechtfertigen, wenn das Gericht ohne Hinweis Fristverlängerung bis 15.3 verfügt (BGH NJW 98, 2291 [BGH 11.02.1998 - VIII ZB 50/97]).

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