Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Pflichten des Gerichts des vorangegangenen Rechtszugs

 

Leitsatz (amtlich)

Dem Berufungskläger ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn während eines Zeitraums von fünf Arbeitstagen versäumt wird, den versehentlich bei dem LG eingereichten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist an das zuständige OLG weiterzuleiten.

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein Gericht, das im vorangegangenen Rechtszug mit der Sache befasst war, ist regelmäßig verpflichtet, fristgebundene Schriftsätze für das Rechtsmittelverfahren, die bei ihm eingereicht werden, im Rahmen des ordentlichen Geschäftsgangs an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Geht der Schriftsatz so rechtzeitig ein, dass eine fristgerechte Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang ohne Weiteres erwartet werden kann, wirkt sich ein Verschulden der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten nicht mehr aus, wenn der Schriftsatz nicht rechtzeitig an das Rechtsmittelgericht weitergeleitet wird (Sen.Beschl. v. 6. Juni 2005 – II ZB 9/04).

 

Normenkette

ZPO § 233

 

Verfahrensgang

OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 13.09.2005; Aktenzeichen 10 U 100/05)

LG Wiesbaden (Urteil vom 15.04.2005; Aktenzeichen 5 O 222/03)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss des 10. Zivilsenats des OLG Frankfurt vom 13.9.2005 aufgehoben und dem Beklagten gegen die Versäumung der Frist zur Berufungsbegründung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt.

Beschwerdewert: 56.475,13 EUR

 

Gründe

[1]I. Der Beklagte hat gegen das ihm am 17.5.2005 zugestellte Urteil des LG Wiesbaden durch am 15.6.2005 beim OLG Frankfurt eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt. Mit einem an das LG Wiesbaden adressierten, dort am 12.7.2005 eingegangenen Schriftsatz hat der Beklagte gebeten, die Berufungsbegründungsfrist wegen Arbeitsüberlastung um einen Monat zu verlängern. Aufgrund einer Verfügung der Kammervorsitzenden vom 25.7.2005 ist dieser Schriftsatz am 27.7.2005 bei dem OLG Frankfurt eingegangen.

[2]Der von dem Senatsvorsitzenden am 22.7.2005 über den Ablauf der Berufungsbegründungsfrist unterrichtete Beklagte hat mit am 1.8.2005 bei dem OLG Frankfurt eingegangenen Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Begründung hat er ausgeführt, der Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist sei versehentlich an das LG Wiesbaden gerichtet worden, weil seine Kanzleiangestellte offenbar im Zuge eines in gleicher Sache gefertigten, ein Tatbestandsberichtigungsverfahren betreffenden Schriftsatzes auch das Verlängerungsgesuch an das LG Wiesbaden adressiert habe. Da der Schriftsatz eine Woche vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist beim LG Wiesbaden eingegangen sei, wäre es ohne Weiteres möglich gewesen, den Schriftsatz im normalen Geschäftsgang an das OLG Frankfurt weiterzuleiten.

[3]Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag des Beklagten zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Beklagten, mit der er die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses begehrt und den Wiedereinsetzungsantrag weiterverfolgt.

[4]II. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet, weil eine Weiterleitung des Schriftsatzes vom 12.7.2005 bis zum Fristablauf am 18.7.2005 im ordentlichen Geschäftsgang ohne Weiteres möglich war.

[5]1. Ein Gericht, das im vorangegangenen Rechtszug mit der Sache befasst war, ist regelmäßig verpflichtet, fristgebundene Schriftsätze für das Rechtsmittelverfahren, die bei ihm eingereicht werden, im Rahmen des ordentlichen Geschäftsgangs an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Geht der Schriftsatz so rechtzeitig ein, dass eine fristgerechte Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang ohne Weiteres erwartet werden kann, wirkt sich ein Verschulden der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten nicht mehr aus, wenn der Schriftsatz nicht rechtzeitig an das Rechtsmittelgericht weitergeleitet wird (Sen.Beschl. v. 6.6.2005 - II ZB 9/04, NJW-RR 2005, 1373 f. m.w.N.; Sen.Urt. v. 1.12.1997 - II ZR 85/97, NJW 1998, 908).

[6]2. Die Auffassung des OLG, dass eine fristgemäße Weiterleitung des Schriftsatzes im ordentlichen Geschäftsgang nicht zu erwarten war, ist rechtsfehlerhaft.

[7]Zu Unrecht meint das Berufungsgericht, das LG habe die zu beobachtende Fürsorgepflicht nicht verletzt. Es kann - auch bei der bekanntermaßen stark belasteten und personell nicht immer hinreichend ausgestatteten Justiz - nicht hingenommen werden, dass eine auch binnen fünf Arbeitstagen nicht bewirkte Weiterleitung eines Schriftsatzes von einem LG zu einem OLG als eine Verfahrensweise qualifiziert wird, die "einem ordentlichen Geschäftsgang" entspricht. Dass das LG Wiesbaden den ihm von dem OLG Frankfurt zugebilligten langen Zeitraum für eine solche Maßnahme nicht benötigt, wird aus dem späteren Ablauf deutlich. Nachdem der Prozessbevollmächtigte des Beklagten die Kammer auf seinen Fehler aufmerksam gemacht und die Vorsitzende die Weiterleitung am 25.7.2005 verfügt hatte, hat der Schriftsatz bereits am übernächsten Tag (27.7.2005) dem Berufungsgericht vorgelegen.

[8]Rechtsfehlerhaft glaubt das Berufungsgericht obendrein, deswegen geringere Anforderungen an die Erfüllung der Fürsorgepflicht des LG stellen zu können, weil für eine erstinstanzliche Zivilkammer Anträge auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nicht zum "alltäglichen Geschäftsanfall" gehören; gerade dieser Umstand musste die Kammer, die von der Anhängigkeit der Berufung Kenntnis hatte, zu besonderer Sorgfalt veranlassen. Da danach der Fehler des Prozessbevollmächtigten des Beklagten nicht ursächlich geworden ist, ist das Wiedereinsetzungsgesuch begründet.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1560002

HFR 2007, 169

NJW 2006, 3499

BGHR 2006, 1317

EBE/BGH 2006, 275

FamRZ 2006, 1371

ZAP 2006, 1259

AnwBl 2006, 767

MDR 2007, 44

SJ 2007, 46

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