Entscheidungsstichwort (Thema)

Koppelungsvorschrift. Impfrecht. ministerielle Richtlinien. öffentliche Empfehlung. Mehrfachimpfstoff. nachträgliche Beschränkung der Impfempfehlung. uneinheitliche Empfehlungspraxis in den Bundesländern

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Frage, welche Bedeutung wechselnde öffentliche Impfempfehlungen, auch in anderen Bundesländern, für die Annahme einer "besonderen Härte" (§ 54 Abs 3 BSeuchG iVm § 89 BVG) haben.

 

Orientierungssatz

1. Zum Umfang der richterlichen Überprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen in den Fällen von Koppelungsvorschriften (hier: § 54 Abs 3 BSeuchG iVm § 89 BVG).

2. Ministerielle Richtlinien für die Ausübung des Ermessens müssen, sofern sie zugleich die Voraussetzungen einer "besonderen Härte" festlegen, mit dem Kerngedanken der gesetzlichen Grundlage vereinbar sein (vgl BSG vom 1977-07-21 7 RAr 135/75 = BSGE 44, 173, 180 f = SozR 4100 § 44 Nr 14).

3. Zum Rechtscharakter der "öffentlichen Empfehlung" einer Schutzimpfung.

4. Zum Versorgungsschutz, wenn bei Anwendung eines Mehrfachimpfstoffes mindestens eine der Teil-Schutzimpfungen öffentlich empfohlen worden ist.

5. Zur Frage, ob eine besondere Härte verneint und eine Versorgung im Ermessenswege versagt werden kann, wenn zum Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung über den Härteausgleich die öffentliche Empfehlung, sich gegen Keuchhusten impfen zu lassen, nachträglich auf bestimmte Fälle besonderer Gefährdung beschränkt ist.

Obgleich es für die Impfentschädigung aufgrund einer öffentlichen Empfehlung allein auf die Rechtsverhältnisse in dem in Anspruch genommenen Land ankommt, darf eine uneinheitliche Empfehlungspraxis nicht außer Betracht gelassen werden, wenn darüber zu entscheiden ist, ob das Fehlen einer einschlägigen Empfehlung zur Zeit der Impfung als "besondere Härte" zu werten ist.

 

Normenkette

BSeuchG § 51 Abs. 1 S. 1, § 54 Abs. 3; BVG § 89 Abs. 1

 

Verfahrensgang

SG Konstanz (Entscheidung vom 24.02.1981; Aktenzeichen S 1 Vi 1053/79)

 

Tatbestand

Der Kläger beantragte im September 1977 Versorgung nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG) wegen einer hirnorganischen Schädigung mit Epilepsie und Halbseitenlähmung; er ist deswegen erwerbsunfähig. Er führte diese Krankheit auf eine Schutzimpfung zurück. Am 13. Juli 1965 wurde er im Alter von fünf Monaten mit dem Mehrfachimpfstoff DPT gegen Diphtherie, Pertussis (Keuchhusten) und Tetanus (Wundstarrkrampf) geimpft. Die begehrte Versorgung wurde mangels eines ursächlichen Zusammenhanges, im Vorverfahren auch als Härteausgleich abgelehnt, weil die Keuchhustenschutzimpfung zur Zeit der ersten Entscheidung über den Versorgungsantrag nur für bestimmte, auf den Kläger nicht zutreffende Fälle öffentlich empfohlen gewesen sei (Bescheid vom 6. März 1978, Widerspruchsbescheid vom 11. September 1979). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. Februar 1981): Für einen Versorgungsanspruch nach § 51 Abs 1 Satz 1 BSeuchG sei 1965 in Baden-Württemberg die Schutzimpfung gegen Keuchhusten nicht öffentlich empfohlen gewesen. Die Versagung eines Härteausgleichs nach § 54 Abs 3 BSeuchG iVm § 89 Bundesversorgungsgesetz (BVG) sei nicht ermessenswidrig. Eine solche Leistung setze nach den ministeriellen Richtlinien voraus, daß im Zeitpunkt der Impfung diese wenigstens gegen eine Erkrankung, gegen die ein Mehrfachimpfstoff schützen soll, öffentlich empfohlen gewesen sei - wie hier gegen Diphtherie und Wundstarrkrampf -. Außerdem müßte aber die öffentliche Empfehlung zur Zeit der Entscheidung über den Versorgungsantrag den Faktor umfaßt haben, der den Impfschaden verursachte. Die zweitgenannte Bedingung sei nicht gegeben; denn die ministerielle Empfehlung, sich gegen Keuchhusten impfen zu lassen, habe zwar ab 1972 bestanden, sei jedoch bereits 1977 auf Fälle beschränkt worden, die beim Kläger nicht zuträfen.

Der Kläger rügt mit der - vom SG zugelassenen - Sprungrevision eine Verletzung des § 54 Abs 3 BSeuchG und des § 89 BVG. Der Beklagte habe die Grenzen des ihm eingeräumten Ermessens verkannt. Der Erlaß des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung vom 30. Juni 1978 sei insoweit aus verfassungsrechtlichen Gründen nichtig, als er einen Härteausgleich davon abhängig mache, daß eine öffentliche Empfehlung, die eine den Impfschaden verursachende Impfung betreffe, zur Zeit der Entscheidung über den Versorgungsantrag bestanden haben solle. Dieser Zeitpunkt sei willkürlich gewählt. Es sei allein in das Belieben der Verwaltung gestellt, die Voraussetzungen für einen begründeten Antrag durch Änderung oder Aufhebung einer öffentlichen Empfehlung zu beseitigen. Der Beklagte hätte auch bei der Prüfung dieses Einzelfalles berücksichtigen müssen, daß zur Zeit der Impfung aufgrund eines Erlasses vom 2. März 1965 ein Feldversuch mit der Dreifachimpfung in Stuttgart öffentlich empfohlen gewesen sei.

Der Kläger beantragt,

unter Änderung des Urteils des SG und unter Aufhebung

der Bescheide des Beklagten diesen zu verurteilen,

dem Kläger ab 1. September 1977 Versorgungsleistungen

nach dem BVG in gesetzlichem Umfang zu gewähren,

hilfsweise,

den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger unter

Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts

einen neuen Bescheid über Versorgungsleistungen

nach dem BVG im Wege des Härteausgleichs zu erteilen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Er verneint einen Ermessensfehlgebrauch.

Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung des beklagten Landes hat sich auf eine Anfrage zu seinem Erlaß vom 30. Juni 1978 geäußert.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat im wesentlichen Erfolg. Die angefochtenen Entscheidungen des SG und der Verwaltung sind aufzuheben, soweit sie einen Härteausgleich betreffen. Der Beklagte ist - entsprechend dem Hilfsantrag des Klägers - zu verpflichten, über eine solche Leistung erneut zu befinden.

Die Revision beschränkt sich auf eine Impfschadensversorgung als Härteausgleich (§ 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3, § 52 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1, § 54 Abs 3, § 59 Abs 2 Nr 1, Art II Abs 4 Satz 1, 2. Alternative des BSeuchG idF des 2. Änderungsgesetzes vom 25. August 1971 - BGBl I 1401 -, jetzt idF vom 18. Dezember 1979 - BGBl I 2262 - iVm § 89 BVG idF vom 22. Juni 1976 - BGBl I 1633). Mit der Versagung dieser Leistung hat die Verwaltung das ihr eingeräumte Ermessen iS des § 54 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht rechtmäßig ausgeübt.

Eine Impfentschädigung als Härteausgleich kann nach § 54 Abs 3 Nr 1 (jetzt Satz 1) BSeuchG iVm § 89 Abs 1 BVG mit Zustimmung der zuständigen obersten Landesbehörde gewährt werden, sofern sich in einzelnen Fällen aus den Vorschriften dieses Gesetzes, dh des BSeuchG, besondere Härten ergeben. Nach § 54 Abs 3 Nr 2 (jetzt Satz 2) BSeuchG iVm § 89 Abs 2 BVG kann der zuständige Minister im Einvernehmen mit der obersten Landesgesundheitsbehörde die Zustimmung allgemein erteilen. Das ist für Fälle wie den gegenwärtigen geschehen.

Die Versorgungsbehörden waren indes nicht uneingeschränkt an den Erlaß des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung des Beklagten vom 30. Juni 1978 gebunden; denn dieser ist teilweise mit dem Gesetz nicht vereinbar. Aus diesem Grund kann der angefochtene Widerspruchsbescheid, der auf dem Erlaß beruht, nicht aufrecht erhalten bleiben.

Ob eine "besondere Härte" in diesem Sinn als Rechtsvoraussetzung für eine Ermessensentscheidung gegeben ist, haben die Gerichte nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 89 BVG in vollem Umfang zu prüfen (BSGE 27, 75 = SozR Nr 1 zu § 89 BVG; BSGE 27, 286, 287 = SozR Nr 2 zu § 89 BVG; SozR Nr 3 zu § 89 BVG; BSGE 31, 83, 84 = SozR Nr 4 zu § 89 BVG; BSGE 33, 291, 292 = SozR Nr 5 zu § 89 BVG; BSGE 34, 96, 97 = SozR Nr 6 zu § 89 BVG; BSGE 47, 123, 124 = SozR 3100 § 89 Nr 7). Eine gewisse Unsicherheit hat in diese Revisionsrechtsprechung zu "Koppelungsvorschriften" ein Urteil des 5. Senats des BSG gebracht, wonach über eine Härte iS des § 602 Reichsversicherungsordnung (RVO) allein die Verwaltung nach ihrem Ermessen entscheiden solle (BSGE 34, 269, 270 ff = SozR Nr 1 zu § 602 RVO; kritisch dazu Müller-Helle, NJW 1973, 1063). Der 5. Senat hat gemeint, nach der einschlägigen Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes - GemSOGB - (BVerwGE 39, 355) gelte jener Grundsatz für alle Fälle von "Koppelungsvorschriften", daran sei das BSG gebunden und deshalb brauche der Große Senat des BSG nicht mit Rücksicht auf die Abweichung von der Rechtsprechung in Kriegsopfersachen nach § 42 SGG angerufen zu werden. Ob diesem Verständnis des Beschlusses des GemSOGB, der einen Fall des Abgabenrechts betraf, auch allgemein für Sozialleistungen, insbesondere für einen Härteausgleich, gefolgt werden muß, ist wiederholt für andere Koppelungsvorschriften des sozialen Leistungsrechts als § 602 RVO verneint worden (BSGE 36, 292 = SozR Nr 29 zu § 35 BVG; BSG SozR 4400 § 23 Nr 1; 1500 § 103 Nr 16 S 9; BSGE 46, 84, 86 = SozR 2200 § 1320 Nr 1; BVerwG Buchholz 436.0 § 91 BSHG Nr 9; 238.41 § 11 SVG Nr 1; DÖV 1981, 298). Der erkennende Senat kann diese Frage hier - ähnlich wie in früheren Entscheidungen - unbeantwortet lassen (BSGE 36, 143 = SozR Nr 9 zu § 89 BVG; BSGE 38, 168, 169 = SozR 3100 § 89 Nr 1; BSGE 40, 216, 217 = SozR 3100 § 89 Nr 3). Jedenfalls müssen auch ministerielle Richtlinien für die Ausübung des Ermessens, sofern sie zugleich die Voraussetzungen einer "besonderen Härte" festlegen, mit dem Kerngedanken der gesetzlichen Grundlage vereinbar sind (für das Arbeitsförderungsgesetz: BSGE 44, 173, 180 f = SozR 4100 § 44 Nr 14). Dieser Anforderung wird der Erlaß vom 30. Juni 1978 nicht gerecht.

Wenn die "besondere Härte" sich aus der Anwendung des betreffenden Gesetzes im Einzelfall ergeben muß, so ist rechtlich maßgebend, ob sich wegen irgendwelcher Umstände des besonderen Falles, die der Gesetzgeber nicht vorhergesehen hat, eine besondere Unbilligkeit aus einem Widerspruch zum Zweck der Versorgung ergibt (BSGE 27, 75, 76 ff; 47, 124, 125 f). Der Beurteilungsmaßstab hat sich dann an dem Tatbestand zu orientieren, auf dem der geltend gemachte Anspruch sonst im Regelfall beruht, für den aber wenigstens eine gesetzliche Voraussetzung fehlt. Das ist hier ein Impfschaden infolge einer öffentlich empfohlenen Schutzimpfung. Nach der verbindlichen Feststellung des SG (§§ 163, 161 Abs 4 SGG) ist die Erkrankung, wegen deren Folgen der Kläger Versorgung begehrt, wahrscheinlich durch den gegen Keuchhusten gerichteten Anteil des Mehrfachimpfstoffes verursacht worden. Ein entsprechender Impfschaden wäre in einem dem gegenwärtigen am nächsten liegenden Fall nach § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BSeuchG nur dann anzuerkennen, wenn diese Impfung zu jener Zeit, als sie vorgenommen wurde, dh hier am 13. Juli 1965, von einer zuständigen Behörde öffentlich empfohlen worden wäre. So war es nicht; deshalb ist ein Rechtsanspruch auf Versorgung rechtskräftig abgelehnt worden. Gleichwohl darf dem Kläger ein Härteausgleich nicht mit der Begründung des angefochtenen Widerspruchsbescheides versagt werden. Denn die Fallgestaltung ist den Voraussetzungen für einen Versorgungsanspruch nicht so unähnlich, daß aus den mitgeteilten Gründen eine "besondere Härte" zu verneinen wäre.

Sowohl für eine inhaltliche Bestimmung und Begrenzung des unbestimmten Rechtsbegriffes "besondere Härte" als für eine Ermessensrichtlinie zu § 54 Abs 3 Nr 2 (jetzt Satz 2) BSeuchG iVm § 89 Abs 2 BVG kann allerdings die erste, vom zuständigen Landesministerium festgelegte Bedingung als sachgemäß bewertet werden. Dies wirkt gerade zugunsten des Klägers. Eine Impfung wenigstens gegen eine der Krankheiten, vor denen ein Mehrfachimpfstoff schützen soll, war öffentlich empfohlen worden. Damit ist eine ähnliche Sach- und Rechtslage gegeben wie bei einer öffentlichen Empfehlung, die sich auf das gesamte angewendete Impfmittel bezieht. Die Impfentschädigung beruht auf dem Rechtsgedanken der Aufopferung; der Staat hat den Impflingen die Duldung eines nicht ganz risikofreien Eingriffs, der die Gesundheit gefährden kann, als Sonderopfer abverlangt. Die Maßnahme soll nicht allein den Geimpften persönlich schützen, sondern darüber hinaus im Interesse der Allgemeinheit die Krankheit, die durch Ansteckung verbreitet wird, eindämmen (BSGE 42, 172, 174 f = SozR 3850 § 51 Nr 2; BSGE 42, 178, 182 f = SozR 3850 § 51 Nr 3; SozR 3850 § 51 Nr 4 S 4 f). Eine entsprechende öffentliche Empfehlung hat zwar nicht den gleichen Zwangscharakter wie eine gesetzliche Impfverpflichtung. Doch legt sie den Bürgern, die sie angeht, bei Kinderimpfungen den Erziehungsberechtigten, mit einer gewissen staatlichen Autorität nahe, sich dem Eingriff zugleich zum Schutz der Allgemeinheit zu unterziehen (BSGE 50, 136, 140 f = SozR 3850 § 51 Nr 6; Urteil des erkennenden Senats vom 28. Januar 1981 - 9 RVi 3/80 -). Falls mindestens eine der Teil-Schutzimpfungen, die bei Anwendung eines Mehrfachimpfstoffes vorgenommen wird, öffentlich empfohlen worden ist, kann die gesamte Maßnahme, einschließlich des Schutzes gegen die nicht von der Empfehlung umfaßte Krankheit nicht mehr allein dem privaten Risikobereich zugerechnet werden. Zur Zeit der Impfung des Klägers soll nach dem Bericht des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung ein Schutzstoff gegen Diphtherie und Wundstarrkrampf gesondert im Handel gewesen sein. Ob dies den Erziehungsberechtigten des Klägers und dem impfenden Arzt bekannt war, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist doch dann auch die kombinierte Impfung, die teilweise öffentlich empfohlen war und teilweise nicht, rechtlich anders zu bewerten als die isolierte Schutzimpfung, die nicht von einer öffentlichen Empfehlung umfaßt wurde. Diese Fallgestaltung steht der in vollem Umfang empfohlenen Impfung relativ nahe. Außerdem ist in solchen Fällen nach der Äußerung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung in medizinischer Hinsicht nicht auszuschließen, daß die öffentlich empfohlene Schutzimpfung die Widerstandskraft gegen den Impfstoff, der nicht durch die Empfehlung abgedeckt war, gemindert hat.

Im gegenwärtigen Fall erstreckte sich die öffentliche Empfehlung im Juli 1965, als der Kläger geimpft wurde, sogar auf zwei Komponenten des angewendeten DPT-Stoffes. Damals war allerdings die iS des § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BSeuchG für öffentliche Empfehlungen zuständige Landesbehörde in Baden-Württemberg nicht ausdrücklich festgelegt (Verordnung des Innenministeriums, des Kultusministeriums und des Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft, Weinbau und Forsten zur Durchführung des BSeuchG vom 5. Juni 1962 - GesBl 176 -; Verordnung vom 8. September 1965 - GesBl 292). Aber mangels einer solchen Regelung war die nach § 77 Abs 1 BSeuchG von der Landesregierung zu bestimmende Gesundheitsbehörde als oberste Landesbehörde das zuständige Ministerium (§ 3 Landesverwaltungsgesetz vom 7. November 1955 - GesBl 225), und zwar für das Gesundheitswesen das Innenministerium (Abschnitt III Nr 9 der Bekanntmachung der vorläufigen Regierung über die Abgrenzung der Geschäftsbereiche der Ministerien vom 8. Juli 1952 - GesBl 21). Dieses Ministerium hatte eine Kombinationsimpfung gegen Diphtherie und Wundstarrkrampf öffentlich empfohlen (Nr 3 des Erlasses des Innenministeriums vom 5. Mai 1965 - Gemeinsames Amtsblatt des Innenministeriums, Finanzministeriums, Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr, Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft usw und Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung sowie der Regierungspräsidien - GABl - 1965, 242). Unabhängig davon war das Impfen aller Kinder nach Vollendung des 1. Lebensjahres gegen Diphtherie gesetzliche vorgeschrieben (§ 2 Abs 1 Satz 1 des Gesetzes über die Impfung gegen Diphtherie vom 25. Januar 1954 - GesBl 5 - dazu Erlaß des Innenministeriums vom 26. August 1960 - GABl 441 -). Mit jener Empfehlung war sogar ein umfassenderer Impfschutz durch einen Mehrfachimpfstoff ministeriell nahegelegt, als es für einen Härteausgleich gefordert wird. Zwar betraf die gesetzliche Impfpflicht den Kläger in dem Zeitpunkt, als er dem Eingriff unterzogen wurde, nach seinem Alter noch nicht. Jedoch enthielt die öffentliche Empfehlung, sich kombiniert gegen Diphtherie und Wundstarrkrampf impfen zu lassen, nicht ausdrücklich eine solche Altersbegrenzung. Sie war unabhängig von der gesetzlichen Pflicht, sich gegen Diphtherie erst nach dem 1. Lebensjahr impfen zu lassen; sonst wäre sie bezüglich dieser Infektionskrankheit überflüssig gewesen. Aus dem rein äußeren Zusammenhang dieser Empfehlung mit der vorausgehenden Anordnung an die Gesundheitsämter bei Diphtherieimpfungen auch Mehrfach - Impfungen gegen diese Krankheit und gegen Wundstarrkrampf zu ermöglichen, ließ sich für einen verständigen Bürger nicht hinreichend deutlich folgern, die öffentliche Empfehlung beschränke sich ebenfalls auf Kinder nach Vollendung des 1. Lebensjahres. Diese Verlautbarung ist aber so auszulegen, wie sie von jedermann, den sie angehen konnte, zu verstehen war. Sie richtete sich nicht bloß an juristisch geschulte Beamte der Gesundheitsverwaltung und an Ärzte, denen etwa bekannt gewesen wäre, daß nach medizinischer Erfahrung eine Diphtherieschutzimpfung in jedem Fall innerhalb des 1. Lebensjahres unvertretbar wäre.

Die hier vertretene Interpretation wird durch die weitere Rechtsentwicklung bestätigt. 1972 wurden Schutzimpfungen gegen Diphtherie und Wundstarrkrampf, auch in Verbindung miteinander, für Kinder ohne eine zeitliche Begrenzung nach unten öffentlich empfohlen (Nrn 1 und 9 der Bekanntmachung des Innenministeriums über öffentlich empfohlene Schutzimpfungen vom 30. August 1972 - GABl 1187 -). Das diente der Klarstellung. Erst 1977 wurde diese Empfehlung ausdrücklich auf Kinder vom 3. Lebensmonat ab beschränkt (Nrn 1 und 9 der Bekanntmachung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung über öffentlich empfohlene Schutzimpfungen vom 10. Juni 1977 - GABl 869 -, erlassen aufgrund der Zuständigkeit nach Nr 5 der Bekanntmachung der Landesregierung über die Änderung der Bekanntmachung über die Abgrenzung der Geschäftsbereiche der Ministerien vom 21. März 1972 - GesBl 81; Abschnitt VIII Nr 11 der Bekanntmachung der Landesregierung über die Abgrenzung der Geschäftsbereiche der Ministerien vom 25. Juli 1972 - GesBl 404 -; § 1 Nr 1 der Verordnung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung vom 7. Dezember 1972 - GesBl 1973 11).

Die zuvor behandelten landesrechtlichen Vorschriften, die das SG nicht vollständig aufgeführt hat, sind vom Revisionsgericht im Zusammenhang mit der Kontrolle der Anwendung von Bundesrecht ergänzend zu berücksichtigen (BSGE 42, 174; 50, 138).

Die andere ministeriell geforderte Voraussetzung für die umstrittene Leistung ist hingegen nicht erfüllt. Die öffentliche Empfehlung, sich gegen Keuchhusten impfen zu lassen, war 1978/79, als die Verwaltungsentscheidungen ergingen, auf bestimmte Fälle besonderer Gefährdung beschränkt (Nr 3 der Bekanntmachung vom 10. Juni 1977). Darunter fiel der Kläger nicht. Gleichwohl durfte angesichts der besonderen Umstände des gegenwärtigen Falles wegen dieses Mangels eine "besondere Härte" nicht verneint und eine Versorgung im Ermessenswege nicht versagt werden. Jene nachträglich festgelegte "Härte"Voraussetzung ist - ebenso wie eine verbotene Rückwirkung einer Belastung (BVerfGE 37, 363, 397 ff; 51, 356, 362 ff = SozR 2200 § 1233 Nr 12; BVerfG SozR 2200 § 1304e Nr 1) - als dessen Gegenstück rechtswidrig. Sie kann für früher geimpfte Bürger wie den Kläger gar nicht mehr erfüllt werden. Andererseits hätte der Kläger, vertreten durch seine Erziehungsberechtigten, diesen Teil der Richtlinie jahrelang zu seinem Vorteil nutzen können. Das wäre seit September 1971 aufgrund der Novelle zum BSeuchG möglich und geboten gewesen. Der Kläger hätte bei einer solchen Rechtslage die Versorgung so rechtzeitig nach Eintritt und Erkennen des Impfschadens beantragen können, daß der erforderliche Bescheid in die Zeit der ihn schützenden Empfehlung gefallen wäre. Impfungen gegen Keuchhusten wurden nämlich 1972 ohne die spätere Einschränkung öffentlich empfohlen (Nr 3 der Bekanntmachung vom 30. August 1972), und zwar in Verbindung mit solchen Schutzmaßnahmen gegen Diphtherie und Wundstarrkrampf (Nr 1 der Bekanntmachung vom 30. August 1972). Falls die Verwaltung ihre Entscheidung regelwidrig bis nach Juni 1977 hinausgezögert hätte, d.h. so lange, bis die Empfehlung nicht mehr den zur Entschädigung angemeldeten Fall des Klägers betraf, wäre das treuwidrig und damit nicht Rechtens gewesen. Da die allgemeine Richtlinie, deren zweite Voraussetzung der Kläger nicht erfüllt, in der Zeit der uneingeschränkten Empfehlung der Keuchhustenimpfung (1972 bis 1977) noch nicht bestand, hatte der Kläger damals keinen Grund, Versorgung als Härteausgleich zu beantragen.

Unter diesen Umständen erscheint die Verneinung einer "besonderen Härte" allein deshalb rechtlich bedenklich, weil das Ministerium erst nachträglich eine Richtlinie geschaffen hat, deren Voraussetzung nicht erfüllt werden kann, ungeachtet dessen ist jedenfalls der Widerspruchsbescheid wegen der wechselnden Empfehlungspraxis nicht aufrechtzuerhalten. Er kann andererseits nicht etwa deshalb bestätigt werden, weil eine "besondere Härte" unter jedem in Betracht kommenden Gesichtspunkt verneint werden müßte.

Entgegen dem Rechtfertigungsversuch des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung ist nicht einzusehen, warum ein Impfgeschädigter, der lediglich diese zweite Voraussetzung für einen Härteausgleich nicht erfüllt, durch eine solche Leistung besser gestellt sein soll als ein solcher, der Versorgung aufgrund eines Rechtsanspruches erhält. Eine Impfentschädigung nach § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BSeuchG kann allein wegen der öffentlichen Empfehlung der schädlich wirkenden Impfung im Zeitpunkt ihrer Vornahme beansprucht werden; ob die Empfehlung noch im Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung besteht, ist nicht wesentlich. Wurde sie aber nach der Impfung überhaupt öffentlich ausgesprochen, so kann die Sachlage den Fällen des § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BSeuchG derart ähnlich sein, daß die Ablehnung einer Ermessensleistung nicht gerechtfertigt wäre. Dies gilt zumal dann, wenn - wie hier - die beiden anderen Teilimpfungen mit dem Mehrfachimpfstoff gerade zur Zeit des schädlich verlaufenen Eingriffs öffentlich empfohlen waren. Der Härteausgleich ist unter solchen Umständen mit den schon dargelegten Grundgedanken der §§ 51 ff BSeuchG nicht schlechthin unvereinbar. Eine Impfung, die einige Jahre uneingeschränkt öffentlich empfohlen wird, ist nicht dem rein privaten Risikobereich zuzurechnen. Immerhin sind auch unter dem Herrschaftsbereich der seit 1977 eingeschränkten Empfehlung, die also zur Zeit der Verwaltungsentscheidungen galt, die Grundvoraussetzungen einer öffentlichen Entschließung iS des § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BSeuchG weiterhin anerkannt geblieben, und zwar einerseits die Erkrankungsgefahr und andererseits die Gefährlichkeit der Impfung. Damit hat das zuständige Ministerium allgemein das öffentliche Interesse an einem solchen Impfschutz bestätigt, wenn auch nicht mehr die Impfung aller Kinder zweckmäßig erscheint. Der Senat verkennt nicht, daß eine Entschädigungspflicht auch im Fall dieser bezeichneten Vorschrift nicht allein von einem bestimmten Verhältnis zwischen tatsächlicher Gefahr einer Keuchhusteninfektion, der Gefährlichkeit der Krankheit und der Möglichkeit einer Impfschädigung abhängt; vielmehr ist eine der tragenden Rechtsgründe eine öffentliche Entschließung, die die zuständige Behörde autonom zu treffen hat. Das muß auch für einen Härteausgleich grundsätzlich maßgebend sein. Aber wenn eine "besondere Härte" gerade im Fehlen einer entsprechenden Empfehlung zur Zeit der Impfung liegen soll, dann muß für eine solche Leistung ausschlaggebend sein, daß der tatsächlich verlaufene Eingriff nicht dem rein privaten Risiko zuzurechnen ist, sondern unter dem Gesichtspunkt der Schutzbedürftigkeit der Allgemeinheit angelastet werden kann. Dafür kann wesentlich sein, ob bestimmte tatsächliche Verhältnisse eine öffentliche Empfehlung iS des Gesetzes oder deren Einschränkung rechtfertigten.

Ob, wann und in welchem Umfang das zuständige Ministerium eine solche Schutzmaßnahme den Bürgern im eigenen Interesse, aber auch um des Gemeinwohls willen öffentlich nahelegt, ist von mancherlei Erkenntnis- und Entscheidungsfaktoren abhängig. Eine solche Entschließung muß nicht stets jeweils genau den wirklichen Verhältnissen entsprechen, von denen sie abhängig zu machen ist. Wenn - wie im gegenwärtigen Fall - eine Keuchhustenimpfung fast fünf Jahre lang uneingeschränkt für Kinder als empfehlenswert angesehen wird, dann ist tatsächlich eine gleiche oder ähnliche Möglichkeit, sich einerseits die Krankheit mit schweren Folgen zuzuziehen und andererseits durch eine Impfung nachhaltig geschädigt zu werden, für die vorhergehende Zeit und für die Dauer einer anschließenden Begrenzung auf besonders gefährdete Kinder nicht ausgeschlossen. Das Ministerium hat auch nicht etwa dargelegt, daß die veränderte Risikoabwägung, die 1977 zur Einschränkung der öffentlichen Empfehlung geführt haben wird, nach einer neuen wirklichen Sachlage unausweichlich geboten gewesen wäre. Dies anzunehmen, liegt allerdings aufgrund einiger Veröffentlichungen über die Krankheitsentwicklung nahe; das Zurückgehen der Infektionshäufigkeit, das diese Entschließung wesentlich beeinflußt haben könnte, kann aber gerade durch eine vermehrte, öffentlich empfohlene Impfpraxis in der vorhergehenden Zeit verursacht worden sein (vgl dazu Ehrengut, Medizinischer Sachverständiger 1971, 93; Ehrengut, Deutsche medizinische Wochenschrift 1974, 2273, 2307; Statistik über die Schutzimpfungen gegen Keuchhusten in den Jahren 1960 und 1961 in: Bundesgesundheitsblatt - BGesBl - 1963, 180; Statistiken über die Keuchhustenerkrankungen in den Jahren 1952/53, 1962/63, 1964/65 bei Göbel, BGesBl 1969, 83, 86, 87, 88, 91; Bericht über den Stand der Schutzimpfungen gegen Keuchhusten in: BGesBl 1973, 248; Empfehlungen der Ständigen Impfkommission des Bundesgesundheitsamtes zur Keuchhusten-Impfung vom 30./31. Oktober 1974, BGesBl 1975, 157).

Es ist nicht zu verkennen, daß die Gesundheitsverwaltung Schwierigkeiten hat, sich die erforderlichen Erkenntnisse über die vorbezeichneten Gefahrenmomente zu verschaffen, um zu einer sachgemäßen Entschließung zu gelangen. Die Entwicklung der Infektions- und der Impfschadensfälle muß über eine längere Zeit statistisch erfaßt werden, bevor eine Empfehlung ausgesprochen, eingeschränkt oder aufgehoben wird. Die ministerielle Empfehlungspraxis ist allerdings nicht frei vom Anschein einer gewissen Beliebigkeit. Die vergleichbaren Flächenstaaten innerhalb des Bundesgebietes haben in dem Zeitraum, auf den es hier ankommt, die öffentlichen Empfehlungen, sich gegen Keuchhusten impfen zu lassen, sehr unterschiedlich gehandhabt. Nordrhein-Westfalen empfahl diese Impfung bereits 1963 für Kinder im 1. Lebensjahr, allerdings mit der vagen Einschränkung "im Fall des gehäuften Auftretens dieser Krankheit" (Erlaß vom 4. Februar 1963 - MBl 188) und bestätigte dies 1968 (Erlaß vom 13. November 1968 - MBl 1940 -). Seit 1977 ist hingegen die Keuchhusten-Impfung in diesem Land überhaupt nicht mehr empfohlen (Erlaß vom 7. Februar 1977 - MBl 237 -). In Schleswig-Holstein war diese Schutzimpfung, in Verbindung mit einer solchen gegen Diphtherie und Wundstarrkrampf, bereits 1965 uneingeschränkt nahegelegt (Erlaß vom 9. Februar 1965 - Amtsblatt 125). Niedersachsen empfahl diese Impfung erst 1968 (Erlaß vom 30. April 1968 - MBl 498 -), bestätigte dies 1971 und 1974 (Erlasse vom 30. August 1971 - MBl 1196 - und vom 28. Mai 1974 - MBl 1192 -), verfügte eine Beschränkung auf besondere Gefährdungsfälle aber bereits 1975 (Erlaß vom 30. Mai 1975 - MBl 787 -), bestätigt 1976 (Erlaß vom 30. November 1976 - MBl 1977, 57 -). In Hessen wurde die Empfehlung erst 1972 ausgesprochen (Erlaß vom 8. August 1972 - Staatsanzeiger 1558 -), 1977 aber in gleichem Umfange aufrechterhalten (Erlaß vom 20. Juli 1977 - Staatsanzeiger 1647 -). Gleiches gilt für Bayern (Bekanntmachungen vom 12. Mai 1972 - AMBl A 194 - und vom 28. Februar 1977 - AMBl A 87 -). Das gilt auch für Rheinland-Pfalz für die Jahre 1973 und 1976 (Erlasse vom 20. Juni 1973 - MinBl 308 - und vom 4. August 1976 - MinBl 1177). Obgleich es für die Impfentschädigung aufgrund einer öffentlichen Empfehlung allein auf die Rechtsverhältnisse in dem in Anspruch genommenen Land ankommt, darf eine uneinheitliche Empfehlungspraxis nicht außer Betracht gelassen werden, wenn darüber zu entscheiden ist, ob das Fehlen einer einschlägigen Empfehlung zur Zeit der Impfung als "besondere Härte" zu werten ist.

Der Beklagte hat nun unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats erneut über einen Härteausgleich zu entscheiden. Dabei hat er insbesondere zu berücksichtigen, daß die Anwendung der beiden Komponenten des Mehrfachimpfstoffes bereits zur Zeit der Impfung von einer öffentlichen Empfehlung erfaßt war und daß der Kläger durch die Schutzmaßnahme gegen Keuchhusten sehr schwerwiegende Folgen erlitten hat. Die Verwaltung darf aber die begehrte Leistung nicht mehr mit der Begründung ablehnen, die Keuchhustenimpfung sei nicht zur Zeit der Verwaltungsentscheidung uneingeschränkt für Kinder öffentlich empfohlen gewesen. Kein besonderes rechtliches Gewicht zugunsten des Klägers hat allerdings die Tatsache, daß vor der 1965 vorgenommenen Impfung allein für den Bereich der Stadt Stuttgart ein "Feldversuch" vom Ministerium angeordnet worden war.

Der Beklagte konnte nicht gemäß dem Hauptantrag des Klägers zur Leistung verurteilt werden; denn es wäre nicht einzig rechtmäßig, dem Kläger eine Impfentschädigung zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655077

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