Entscheidungsstichwort (Thema)

Impfschaden. Masernschutzimpfung. öffentliche Empfehlung

 

Orientierungssatz

Der Hinweis bei der Mütterberatung im Gesundheitsamt auf die Möglichkeit der Schutzimpfung gegen Masern durch den Hausarzt reicht nicht aus, eine Empfehlung zur Durchführung der Masernschutzimpfung iS des § 51 Abs 1 S 1 Nr 3 BSeuchG anzunehmen. Empfehlen bedeutet in diesem Zusammenhang auffordern, befürworten, zusprechen, zumindest aber den Eindruck erwecken, daß staatliche Stellen die Impfung wünschen. Die bloße Mitteilung oder der Hinweis auf eine Impfmöglichkeit genügt ebensowenig wie die Warnung vor Reisen in ausländisches Infektionsgebiet (vgl BSG vom 1976-08-25 9 RVi 4/75 = SozR 3850 § 51 Nr 3).

 

Normenkette

BSeuchG § 51 Abs 1 S 1 Nr 3 Fassung: 1971-08-25

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 30.04.1980; Aktenzeichen L 12 Vi 273/80)

SG Mannheim (Entscheidung vom 18.12.1979; Aktenzeichen S 12/6 Vi 1762/76)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin Anspruch auf Versorgung wegen eines Impfschadens hat. Die am 5. August 1967 geborene Klägerin wurde gegen Pocken, gegen Masern und gegen Poliomyelitis geimpft. Im August 1975 beantragten ihre Eltern für sie die Anerkennung eines Impfschadens und trugen dabei vor, bei der Klägerin seien cerebrale Krampfanfälle, ein Hirnschaden mit Wesensänderung, eine Schädigung des Bewegungsapparates und Sprachschwierigkeiten aufgetreten. Das Versorgungsamt Heidelberg lehnte die Anerkennung eines Impfschadens ab, weil kein Anhalt dafür gegeben sei, daß den Impfungen ein meßbarer Wert für die Verschlimmerung der bereits vor der ersten Impfung bestehenden Schädigungen der Klägerin zukomme.

Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, der Klägerin ab 1. August 1975 Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 vH zu gewähren, weil die Schäden durch die Impfung gegen Masern hervorgerufen seien. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 30. April 1980 das Urteil des SG aufgehoben, die Klage abgewiesen und dazu ausgeführt: Im Zeitpunkt der Masernschutzimpfung - 15. April 1969 - sei diese Impfung nicht von einer zuständigen Behörde öffentlich empfohlen gewesen. Dies sei erst mit der Bekanntmachung des Innenministeriums vom 30. August 1972 geschehen. Das Staatliche Gesundheitsamt M habe weder durch Presseaufrufe, Verteilung von Merkblättern, Rundschreiben noch ähnliche Maßnahmen die Masernschutzimpfung öffentlich empfohlen. Der Begriff "öffentliche Empfehlung" verlange, daß sich die Empfehlung an die Öffentlichkeit richte, also in allgemeiner Weise an die in einem bestimmten Gebiet in Betracht kommenden Personen. Das sei bei einer Empfehlung oder einem Ratschlag, der im Rahmen einer individuellen Beratung durch eine Gesundheitsbehörde erfolge, nicht der Fall. Im Gesundheitsamt sei lediglich auf die Möglichkeit von Masernschutzimpfungen durch frei praktizierende Ärzte im Rahmen der Mütterberatung auf dementsprechende Anfragen hingewiesen worden. Es sei fraglich, ob hierin eine Empfehlung zur Vornahme der Masernschutzimpfung gesehen werden könne.

Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und rügt die Verletzung der § 51 Abs 1 Bundesseuchengesetz (BSeuchG), §§ 103 und 106 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das LSG habe den Begriff der "öffentlichen Empfehlung" verkannt. Hierunter falle auch eine Einzelberatung, die in einer Beratungsstelle abgehalten werde und die allen Schwangeren zugänglich sei. Das LSG hätte daher der Frage nachgehen müssen, in welcher Weise sich das Gesundheitsamt M seinerzeit gegenüber der Mutter der Klägerin geäußert habe. Die Frage der Kausalität hätte ebenfalls durch Einholung einer ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen aufgeklärt werden müssen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung

gegen das Urteil des SG Mannheim zurückzuweisen,

hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den

Rechtsstreit zu neuer Verhandlung zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

Die Klägerin begehrt die Anerkennung ihrer Gesundheitsstörungen als Folgen einer Impfung. Nach § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BSeuchG idF des Zweiten Änderungsgesetzes vom 25. August 1971, BGBl I 1401, erhält derjenige, der durch eine Impfung, die von einer zuständigen Behörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen worden ist, einen Impfschaden erleidet, wegen der gesundheitlichen und , wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit das BSeuchG nichts Abweichendes bestimmt. Dieses Gesetz ist nach seinem Art 2 Abs 2 auch dann anwendbar, wenn - wie hier - die Impfung zwar vor dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes durchgeführt, aber noch nicht über einen erlittenen Impfschaden entschieden worden ist.

Die Masernschutzimpfung ist in Baden-Württemberg durch Erlaß des für das Gesundheitswesen zuständigen Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung (vgl § 1 Abs 2 der Verordnung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Bundesseuchengesetzes vom 7. Dezember 1972, Gesetzblatt 1973 S 11), öffentlich empfohlen worden, weil dieses Ministerium die Bekanntmachung des Innenministeriums über öffentlich empfohlene Schutzimpfungen vom 30. August 1972 (GABl S 1187) nicht geändert hat. Im Zeitpunkt der Impfung - 15. April 1969 - war die Masernschutzimpfung also noch nicht öffentlich von der obersten Gesundheitsbehörde des Landes empfohlen (vgl § 14 Abs 3 BSeuchG).

Es kann dahingestellt bleiben, ob für die Zeit vor dem 1. September 1971 als zuständig nur eine Behörde angesehen werden kann, deren Bereich das gesamte Land Baden-Württemberg umfaßt, oder auch eine mit regionalem Kompetenzbereich wie das Gesundheitsamt M, in dessen Bezirk die Klägerin geimpft worden ist. Es braucht auch nicht entschieden zu werden, ob Aussagen innerhalb der Mütterberatung als "öffentlich" angesehen werden könnten. Das LSG hat nämlich festgestellt, daß durch das Gesundheitsamt M eine Schutzimpfung gegen Masern nicht empfohlen worden ist. An diese Feststellung ist der Senat gebunden (§ 163 SGG), weil in bezug hierauf begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht worden sind. Die Revision hat nicht vorgetragen, daß diese Feststellungen unrichtig sind und durch welche Mittel andere Tatsachen hätten nachgewiesen werden können.

Das LSG hat seine Feststellung, in der Mütterberatung sei lediglich auf die Möglichkeit der Schutzimpfung gegen Masern durch die frei praktizierende Ärzteschaft hingewiesen worden, auf die Aussage der Mutter der Klägerin vor dem SG und auf die Auskünfte des Gesundheitsamtes gestützt. Die Mutter der Klägerin ist mehrere Male bei der Mütterberatung im Gesundheitsamt M gewesen. Dabei sei - wie sie angibt - auch die Frage der Masernimpfung angesprochen worden. Ihr sei damals geraten worden, sich wegen einer eventuellen Impfung mit dem behandelnden Arzt in Verbindung zu setzen. Dieser Hinweis reicht nicht aus, eine Empfehlung zur Durchführung der Masernschutzimpfung anzunehmen. Empfehlen bedeutet in diesem Zusammenhang auffordern, befürworten, zusprechen, zumindest aber den Eindruck erwecken, daß staatliche Stellen die Impfung wünschen. Die bloße Mitteilung oder der Hinweis auf eine Impfmöglichkeit genügt ebensowenig wie die Warnung vor Reisen in ausländisches Infektionsgebiet (vgl BSG SozR 3850, § 51 Nr 3; Wilke/Wunderlich, Bundesversorgungsgesetz, Handkommentar, § 51 BSeuchG Anm II Nr 3b). Durch die Verweisung an den Hausarzt ist die Mutter der Klägerin in keiner Weise von einer staatlichen Stelle bedrängt oder gar genötigt worden, im Interesse der Allgemeinheit ihr Kind gegen Masern impfen zu lassen. Darin aber liegt der Grundgedanke für die Impfentschädigung als besondere Ausgestaltung des allgemeinen Aufopferungsanspruchs (vgl BSG aaO).

Der vom LSG bindend festgestellte Sachverhalt (§ 163 SGG) gibt schließlich keine Veranlassung zu der Annahme, daß der Tatbestand einer öffentlich empfohlenen Impfung hier durch einen von der zuständigen Behörde verursachten Rechtsschein einer solchen Empfehlung zu ersetzen ist (vgl BSG SozR 3850 § 51 Nr 6). Es wird an keiner Stelle deutlich, daß die Masernimpfung gerade wegen des Anscheins vorgenommen wurde, staatliche Stellen hätten eine Empfehlung ausgesprochen.

Im übrigen erscheint es nicht unzweifelhaft, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Gesundheitsschäden der Klägerin und der Masernschutzimpfung wahrscheinlich ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654753

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