Rdn 412

 

Literaturhinweis:

Neuhaus, Der Grundsatz der ständigen Anwesenheit des Angeklagten in der strafprozessualen Hauptverhandlung 1. Instanz unter besonderer Berücksichtigung des § 231a StPO, 2000

Metz, Entfernung des Angeklagten nach § 247 StPO, NStZ 2017, 446.

 

Rdn 413

1.a) Grds. ist der Angeklagte nach § 231 Abs. 1 S. 1 zur ununterbrochenen Anwesenheit während der gesamten HV verpflichtet, was nach § 332 auch für die Berufungshauptverhandlung, gilt (zur Anwesenheitspflicht allgemein Meyer-Goßner/Schmitt, § 230 Rn 2 m.w.N.; BVerfG NJW 2007, 2977, 2979; → Berufung, Berufungshauptverhandlung, Teil B Rdn 722). Deshalb kann der Angeklagte nicht, auch nicht im allseitigen Einverständnis, aus der HV entlassen werden (BGH NJW 1973, 522; NStZ 1991, 296; OLG Celle StV 2017, 810 [Ls.] m. Anm. Burhoff StRR 2/2018, 11; s. aber → Beurlaubung des Angeklagten von der Hauptverhandlung, Teil B Rdn 975), und er kann auch nicht selbst auf seine Anwesenheit verzichten (BGH, a.a.O.; StV 2003, 373). Das gilt auch, wenn der Angeklagte der Hauptverhandlung bei geöffneter Tür aus einem Nebenraum folgen konnte (OLG Celle, a.a.O.). In einigen Fällen bestehen allerdings Ausnahmen von der Anwesenheitspflicht des Angeklagten. Das gilt, wenn das Verfahren insgesamt in Abwesenheit des ausgebliebenen Angeklagten durchgeführt werden kann (dazu die §§ 232, 233, 329, 350 Abs. 2, 387 Abs. 1, 411 Abs. 2, 412), zeitweilig die Anwesenheit des Angeklagten nicht erforderlich ist (vgl. §§ 231 Abs. 2, 231a, 231b) oder wenn er sich unter den Voraussetzungen des § 247 aus dem Sitzungszimmer zu entfernen hat (→ Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung, Teil E Rdn 1736); s. die weiterführenden Hinw.; zur Entbindung nach § 73 OWiG im Bußgeldverfahren → Bußgeldverfahren, Besonderheiten, Anwesenheit des Betroffenen, Teil B Rdn 1488 ff.).

 

Rdn 414

b) Der Pflicht des Angeklagten zur Anwesenheit entspricht auf der anderen Seite sein Recht auf Anwesenheit in der HV (OLG Karlsruhe StV 1986, 289), das auch dann besteht, wenn der Angeklagte ausnahmsweise (s.u. Teil A Rdn 417) nicht zur Anwesenheit verpflichtet ist (BGHSt 28, 35, 37). Das Gericht darf daher dem Angeklagten die Anwesenheit in der HV nicht verbieten, auch wenn es ohne ihn verhandeln könnte (Meyer-Goßner/Schmitt, § 230 Rn 4 m.w.N.; eine Ausnahme hiervon stellt § 247 dar, → Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung, Teil E Rdn 1736). Andererseits kann der Angeklagte auch nicht auf sein Anwesenheitsrecht verzichten (OLG Hamm StV 2010, 59; OLG Celle StV 2017, 810 [Ls.] m. Anm. Burhoff StRR 2/2018, 11) bzw. kann nicht eine Einigung über die Anwesenheit des Angeklagten getroffen werden (OLG Celle, a.a.O.; OLG Hamm StV 2007, 571).

 

Rdn 415

2.a) Nach § 231 Abs. 1 S. 2 kann der Vorsitzende geeignete Maßnahmen treffen, um das Sich-Entfernen des Angeklagten zu verhindern. Zu den zulässigen Maßnahmen gehören die Bewachung durch einen Justizbeamten, ggf. auch, sofern weniger einschneidende Maßnahmen keinen Erfolg versprechen, die → Fesselung des Angeklagten, Teil F Rdn 1850 (BGH NJW 1957, 271; Meyer-Goßner/Schmitt, § 231 Rn 2), wenn die (allgemeinen) Voraussetzungen des § 119 Abs. 1 vorliegen (KK-Gmel, § 231 Rn 2; OLG Dresden NStZ 2007, 479).

 

Rdn 416

Der Vorsitzende kann den Angeklagten nach § 231 Abs. 1 S. 2 während einer → Unterbrechung der Hauptverhandlung, Teil U Rdn 3131, in Gewahrsam nehmen lassen. Das setzt aber voraus, dass Anlass zu der Annahme besteht, der Angeklagte wolle sich der weiteren HV entziehen (zur Beeinträchtigung des Rechts auf angemessene Verteidigung bei grundloser Ingewahrsamnahme BGH NStZ 2004, 637). Die Dauer der Unterbrechung spielt grds. keine Rolle. Der Angeklagte kann daher auch über die Nachtstunden und bei mehrmaliger Unterbrechung der HV mehrmals in Gewahrsam genommen werden (Meyer-Goßner/Schmitt, § 231 Rn 3 m.w.N.). Fraglich ist, ob das auch für eine länger andauernde, ggf. sogar mehrtägige Unterbrechung gilt oder ob dann nicht nach den §§ 112 ff. ein HB erlassen werden muss (so OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 2003, 329; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.; KK-Gmel, § 231 Rn 2; vgl. a. Wendisch StV 1990, 166 in der Anm. zu OLG Oldenburg NStZ 1990, 431 [zur Frage, ob das Herbeiführen der Verhandlungsunfähigkeit ein "Sich-Entziehen" i.S.v. § 112 Abs. 2 Nr. 2 darstellt]). M.E. ist in diesen Fällen der Erlass eines HB erforderlich, da § 231 Abs. 1 S. 2 lediglich der Sicherung des ungestörten Ablaufs der HV dient und dem Vorsitzenden nicht das Recht gibt, darüber hinaus allein in den Freiheitsanspruch des Angeklagten einzugreifen (vgl. a. BVerfGE 21, 184, 188). Das gilt, nachdem das 1. JuMoG die zulässigen Unterbrechungsfristen verlängert hat, auf jeden Fall, da anderenfalls der Angeklagte allein aufgrund einer Entscheidung des Vorsitzenden bis zu drei Wochen in Gewahrsam genommen werden könnte (→ Unterbrechung der Hauptverhandlung, Teil U Rdn 3131). Überdies dürfen auch die in § 230 Abs. 2 sowie erst recht die in § 112 Abs. 2 aufgestellten Hürden für eine Inhaftierung des Ang...

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