Das Wichtigste in Kürze:

1. Die Vortätigkeit des Richters ist, wenn sie das Gesetz nicht ausdrücklich zu einem Ausschließungsgrund nach den §§ 22, 23 erhoben hat, grds. kein Ablehnungsgrund, sofern zu ihr nicht besondere Umstände hinzukommen, die die Besorgnis der Befangenheit begründen.
2. Die Rspr. des EGMR sieht hingegen in den Fällen typischer Vorbefassung oder Vorbefassung in anderer Funktion regelmäßig einen Ablehnungsgrund.
3. Auch zu dem Ablehnungsgrund "Vorbefassung" liegt umfangreiche Rechtsprechung vor.
 

Rdn 49

 

Literaturhinweise:

S.a. die Hinw. bei → Ablehnung eines Richters, Allgemeines, Teil A Rdn 2, und bei → Ablehnungsgründe, ­Befangenheit, Allgemeines, Teil A Rdn 17.

 

Rdn 50

1. Die Vortätigkeit/Vorbefassung des Richters mit oder in dem Verfahren ist, wenn sie das Gesetz nicht ausdrücklich zu einem Ausschließungsgrund nach den §§ 22, 23 erhoben hat, nach h.M. grds. kein Ablehnungsgrund, sofern nicht besondere Umstände hinzukommen, die die Besorgnis der Befangenheit begründen (vgl. u.a. BGHSt 24, 336; BGH NJW 2009, 1287 [Ls.]; NStZ 2012, 519; 2014, 660 m. Anm. ­Hillenbrand StRR 2014, 444; NStZ 2016, 357; StraFo 2016, 289; Beschl. v. 19.4.2018 – 3 StR 23/18, StraFo 2018, 429 m. Anm. Burhoff StRR 9/2018, 10 [Revisionsverfahren]; NStZ-RR 2018, 252 [Revisionsverfahren]; Beschl. v. 9.1.2018 – 1 StR 571/17; OLG Köln, Beschl. v. 8.4.2013 – 2 Ws 204/13; OLG Oldenburg, Beschl. v. 30.10.2020, 1 Ws 362/20, StraFo 2021, 21; s. aber Stange/Rilinger StV 2005, 579, die für atypische Vorentscheidungen von Befangenheit ausgehen). Erforderlich ist eine Gesamtschau (BGH NStZ 2012, 519; BGH, Beschl. v. 28.2.2018 – 2 StR 234/16, NStZ 2018, 483 m. Anm. Ventzke; zur "Vorbefassung" als Ausschlussgrund nach § 22 → Ausschluss eines Richters, Teil A Rdn 811 ff. und OLG Oldenburg, Beschl. v. 14.5.2020 – 1 Ws 140/20, StraFo 2021, 21 m. Anm. Deutscher StRR 11/2020, 19).

 

☆ Den Ablehnungsgrund der Vorbefassung muss der Verteidiger schon sorgfältig bei der → Vorbereitung der Hauptverhandlung , Teil V Rdn  5183 , und nicht erst in der HV prüfen. Dabei sollte er auf die von der innerstaatlichen Rspr. abweichende Auffassung des EGMR hinweisen und auch die Frage der innerstaatlichen Bindungswirkung der Rspr. des EGMR thematisieren (dazu zuletzt BVerfG NJW 2004, 3407, sowie BVerfG NJW 1986, 1425 [unmittelbar geltendes Völkerrecht, auf das sich jedermann berufen kann]; dazu auch Meyer-Mews , Richterliche Befangenheit, S. 45 f. m.w.N.)."Vorbefassung" muss der Verteidiger schon sorgfältig bei der → Vorbereitung der Hauptverhandlung, Teil V Rdn 5183, und nicht erst in der HV prüfen. Dabei sollte er auf die von der innerstaatlichen Rspr. abweichende Auffassung des EGMR hinweisen und auch die Frage der innerstaatlichen Bindungswirkung der Rspr. des EGMR thematisieren (dazu zuletzt BVerfG NJW 2004, 3407, sowie BVerfG NJW 1986, 1425 [unmittelbar geltendes Völkerrecht, auf das sich jedermann berufen kann]; dazu auch Meyer-Mews, Richterliche Befangenheit, S. 45 f. m.w.N.).

 

Rdn 51

2. Die Rspr. des EGMR sieht hingegen in den Fällen typischer Vorbefassung oder Vorbefassung in anderer Funktion regelmäßig einen Ablehnungsgrund (zuletzt u.a. EGMR, Urt. v. 16.2.201 – 1128/17, StV-S 2921, 41 [Ls; Aufhebung von BGH StraFo 2016, 289]; dazu eingehend Meyer-Mews, Richterliche Befangenheit, S. 42 ff.; vgl. aber auch EGMR NJW 2011, 3633 [allein die Tatsache, dass ein Richter bereits über ähnliche Strafvorwürfe in einem gesonderten Verfahren entschieden hat [hier: Verfahren gegen Drogenhändler], reicht nicht aus, Zweifel an seiner Unparteilichkeit in einem darauf folgenden Verfahren gegen einen seiner Kunden zu begründen]). Das gilt insbesondere auch für die Beteiligung an (Haft-)Zwischenentscheidungen (dazu EGMR EuGRZ 1985, 301; 1993, 122; zur Begründung der EGMR-Beschwerde EGMR NJW 2007, 3553).

 

Rdn 52

3. Zum Ablehnungsgrund "Vorbefassung" (zur Begründung eines entsprechenden Antrags Beschl. v. 23.1.2019 – 5 StR 143/18, StraFo 2019, 277 [Ablehnung eines Beweisantrages]) ist hinzuweisen auf folgende von der innerstaatlichen Rspr. aufgestellte Grundsätze und Rechtsprechungsbeispiele:

 

Rdn 53

 

Allgemeine Vorbefassung Befangenheit verneint

nach h.M. allein deshalb, weil er mit dem Sachverhalt bereits befasst war, denn ein verständiger Beschuldigter kann und muss davon ausgehen, dass der Richter sich dadurch nicht bereits für künftige Entscheidungen festgelegt hat (BGHSt 50, 216, 221; BGH NStZ 2011, 44; 2016, 357; Beschl. v. 28.2.2018 – 2 StR 234/16, NStZ 2018, 483 m. Anm. Ventzke; StraFo 2016, 289; NStZ-RR 2016, 17, insoweit nicht in StV 2016, 633; dazu auch EGMR NJW 2011, 3633 und zuletzt u.a. EGMR, Urt. v. 16.2.201 – 1128/17, StV-S 2921, 41 [Ls; Aufhebung von BGH StraFo 2016, 289]), was insbesondere gilt,

wegen Beteiligung im Ablehnungsverfahren (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 9.4.2020 – 1 OLG 2 Ss 56/18, NStZ 2019, 486 für Richter im Berufungsverfahren, der jetzt in der Revision tätig ist),
wegen Beteiligung am → Eröffnungsverfahren, Teil E Rdn 2356 (BVerfG NJ...

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