Entscheidungsstichwort (Thema)

Ausschluss von Richtern kraft Gesetzes im Strafverfahren: Vernehmungsäquivalente dienstliche Erklärung über Wahrnehmungen anlässlich einer früheren Hauptverhandlung. Zeugenbekundungen durch Urteilsgründe eines früheren Prozesses. Ausschluss aufgrund von Selbstanzeige

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine dienstliche Erklärung über Wahrnehmungen anlässlich einer früheren Hauptverhandlung kann nur dann als eine die persönliche Vernehmung ersetzende schriftliche Zeugenäußerung i.S.d. § 22 Nr.5 StPO gewertet werden, wenn diese sich nicht allein zu prozessual erheblichen Vorgängen verhält, sondern Beweisergebnisse zum Gegenstand hat, die auf komplexen, ausschließlich auf den Einzelfall bezogenen Wahrnehmungen des Richters beruhen.

2. Die Urteilsgründe eines früheren Prozesses stellen schon deshalb keine Zeugenbekundungen im vorstehenden Sinne dar, da diese lediglich das Ergebnis der geheimen Beratungen (der Mehrheit) eines Spruchkörpers abbilden und sich ihnen gerade nicht entnehmen lässt, welcher der jeweils seinerzeit an der Urteilsfindung beteiligten Richter welche konkreten Wahrnehmungen in der früheren Hauptverhandlung gemacht hat.

3. Das Vorliegen einer Selbstanzeige nach § 30 StPO führt selbst dann, wenn diese komplexe, ausschließlich auf den Einzelfall bezogene Wahrnehmungen aus einer früheren Hauptverhandlung zum Gegenstand hat, nicht zwangsläufig zum Ausschluss des betreffenden Richters nach § 22 Nr. 5 StPO, solange vorrangig auszuschöpfenden Möglichkeiten gegeben sind, das im Rahmen der Selbstanzeige zu Tage getretene Wissen des Richters auf andere Weise als durch dessen Zeugenvernehmung in das laufende Verfahren einzubringen.

 

Normenkette

StPO § 22 Nr. 5, § 30

 

Verfahrensgang

LG Oldenburg (Entscheidung vom 27.02.2020; Aktenzeichen 5 Ks 23/19)

 

Tenor

Die sofortigen Beschwerden der Angeschuldigten AA, CC und DD gegen den Beschluss des Landgerichts Oldenburg vom 27. Februar 2020,

durch den ihre auf Ablehnung des Vorsitzenden Richters am Landgericht (...) sowie der Richter am Landgericht (...) und (...) wegen Ausschlusses kraft Gesetzes gerichteten Anträge als unbegründet zurückgewiesen worden sind,

werden auf ihre Kosten als unbegründet verworfen.

 

Gründe

I.

Die Ablehnungsanträge stehen im Zusammenhang mit der vorangegangenen Tätigkeit der in der Beschlussformel genannten Richter der 5. Großen Strafkammer - Schwurgerichtskammer - des Landgerichts Oldenburg in dem Strafverfahren gegen FF wegen Mordes an Patienten der Kliniken GG und HH, in welchen FF als Pfleger tätig war (Az. 5 Ks 800 Js 54254/17 (1/18)). In jenem Verfahren hat die 5. Große Strafkammer unter Mitwirkung der vorgenannten Richter den dort angeklagten FF mit Urteil vom 6. Juni 2019 wegen Mordes in 85 Fällen zu lebenslanger Freiheitstrafe verurteilt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

Den nunmehr in diesem Verfahren Angeschuldigten AA, BB, CC, DD und EE wird mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Oldenburg vom September 2019 vorgeworfen, in Ort1 und Ort2 in der Zeit vom 17. November 2002 bis zum 24. Juni 2005 jeweils durch Unterlassen Morde sowie versuchte Morde durch FF ermöglicht zu haben, indem sie es billigend in Kauf nahmen und nichts dagegen unternahmen, dass FF Patienten durch Injektion verschiedener Medikamente, insbesondere Kalium, tötete. Dabei wird den Angeschuldigten jeweils aufgrund ihrer beruflichen Position eine Garantenstellung und -pflicht zugeschrieben. Den Angeschuldigten AA und DD werden sowohl die Tötungen auf der Station (...) des Klinikums GG als auch diejenigen im Klinikum HH zugerechnet, den Angeschuldigten BB und CC ausschließlich diejenigen auf der Station (...) des Klinikums GG und dem Angeschuldigten EE wiederum diejenigen, die im Klinikum HH von FF begangen worden sein sollen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den angefochtenen Beschluss sowie die Anklageschrift verwiesen.

Die 5. Große Strafkammer hat das Hauptverfahren bisher noch nicht eröffnet, sondern zunächst rechtliche und tatsächliche Hinweise erteilt. Die Angeschuldigten haben hierzu sowie zu der Eröffnung des Hauptverfahrens umfangreiche Stellungnahmen abgegeben.

Die Angeschuldigten AA, DD, BB und CC haben die aus der Beschlussformel ersichtlichen Richter (auch) wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, die Angeschuldigte DD darüber hinaus die ebenfalls zur 5. Großen Strafkammer gehörige Richterin (...), so dass derzeit sämtliche Richter der Kammer wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt sind. Über die Ablehnungen ist bisher noch nicht entschieden worden.

Mit den hier gegenständlichen Anträgen machen die Angeschuldigten AA, DD und CC geltend, der Vorsitzende Richter am Landgericht (...) sowie die Richter am Landgericht (...) und (...) seien von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen, und lehnen die Richter hilfsweise wegen der Besorgnis der Befangenheit ab. Wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz des Angeschuldigten AA vom 27. Januar 2020 verwiesen, dem sich die Angeschuldigte DD und der Angeschuldigte...

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