Befangenheit: Richter muss Anwaltsschriftsätze vollständig lesen

Nimmt ein Gericht den Inhalt der von einer Prozesspartei über ihren Anwalt eingereichten Schriftsätze nicht zur Kenntnis, so begründet dies die Besorgnis der Befangenheit.

Das OLG Karlsruhe hat einen Richter für befangen erklärt, der in zwei Anwaltsschriftsätzen die namens der Prozesspartei gestellten Befangenheitsanträge übersehen und deshalb die prozessuale Wartepflicht verletzt hat.

Erstmalige Nichtbeachtung des Befangenheitsantrags

In einer mehr als 100 Seiten umfassenden Klageerwiderung hatte der Anwalt der beklagten Partei auf Seiten 5 und 6 den zuständigen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und den Ablehnungsantrag begründet. Der Richter leitete - wie sich später herausstellte - den Schriftsatz ungelesen an die Klägerin zu Stellungnahme innerhalb einer gesetzten Frist weiter.

Hinweis der Beklagten auf die gesetzliche Wartepflicht

Kurz darauf beantragte die beklagte Partei die Verlängerung der ihr gesetzten Frist zu einer Klageerweiterung der Klägerseite. In diesem Schriftsatz wiederholte die Beklagte den Befangenheitsantrag und wies darauf hin, dass der Richter gegen die Wartepflicht des § 47 Abs. 1 ZPO verstoßen habe. Nach dieser Vorschrift darf ein Richter, gegen den ein Ablehnungsgesuch gestellt wurde, bis zur Entscheidung über dieses Gesuch nur solche Prozesshandlungen vornehmen, die keinen Aufschub dulden. Das sind u.a. Vollstreckungsschutzanträge oder Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz. Die Zustellung von Schriftsätzen, die Entscheidungen über Fristverlängerungsanträge sowie Fristsetzungen sind keine solchen unaufschiebbaren Maßnahmen.

Richter übergeht auch 2. Befangenheitsantrag

Der Richter beachtete auch den 2. Befangenheitsantrag nicht und verlängerte entgegen der Wartepflicht die Frist zur Stellungnahme antragsgemäß. Nachdem die Beklagte in einem weiteren Schriftsatz ihr Ablehnungsgesuch nochmals wiederholte, legte der Richter die Akten der Kammer zur Entscheidung über das Ablehnungsgesuch vor.

Schriftsatz nicht gelesen

In der angeforderten dienstlichen Stellungnahme erklärte der zuständige Richter, er habe die über 100 Seiten umfassende Klageerwiderung nicht gelesen, sondern lediglich das Inhaltsverzeichnis zur Kenntnis genommen. Er habe zunächst die notwendigen Stellungnahmen einholen und die Schriftsätze dann im Gesamtzusammenhang lesen wollen. Hierdurch habe er sowohl das erste als auch das zweite Ablehnungsgesuch übersehen, was er bedaure.

OLG erklärt Ablehnungsgesuch für begründet

Auf Grundlage dieser dienstlichen Stellungnahme wies die Kammer das Ablehnungsgesuch als unbegründet zurück. Auf die sofortige Beschwerde änderte das OLG die Entscheidung der Kammer ab und erklärte das Ablehnungsgesuch für begründet.

Berechtigte Befürchtung einer nachlässigen Arbeitsweise des Gerichts

Nach Auffassung des Senats war das Verhalten des Richters geeignet, beim Beklagten Misstrauen gegen dessen Unparteilichkeit hervorzurufen. Das zweimalige Übersehen von Ablehnungsanträgen wegen der Besorgnis der Befangenheit und die hieraus folgenden Verstöße gegen die Wartepflicht des § 47 Abs. 1 ZPO seien geeignet, beim Beklagten die Befürchtung auf eine nachlässige und unsorgfältige Wahrnehmung und Berücksichtigung seines Vorbringens hervorzurufen. Aus der Sicht des Beklagten sei die Befürchtung nachvollziehbar, dass der von ihm abgelehnte Richter auch im weiteren Verfahren sein Vorbringen nicht zur Kenntnis und daher nicht angemessen berücksichtigen würde.

Schwerwiegender Sorgfaltsverstoß des Richters

Der Senat bewertete die Rechtsverstöße des abgelehnten Richters ausdrücklich als schwerwiegend. Die Wartepflicht des § 47 Abs. 1 ZPO haben nicht nur formalen Charakter. Die Wartepflicht sei vielmehr Ausdruck des von der Verfassung garantierten Prinzips des gesetzlichen Richters. Lehne eine Partei einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ab und sei der Antrag nicht offensichtlich rechtsmissbräuchlich, solle der abgelehnte Richter nach dem Willen des Gesetzes keine für den Fortgang des Prozesses maßgeblichen Handlungen mehr vornehmen können, solange über die Berechtigung des Ablehnungsgesuchs nicht entschieden ist.

Arbeitsüberlastung entschuldigt mangelnde Sorgfalt nicht

Auch in Anbetracht der Arbeitsüberlastung der Gerichte ist nach der Entscheidung des OLG das 2-malige Übersehen von Befangenheitsanträgen nicht nachvollziehbar. Trotz des Umfangs der Klageerwiderung von über 100 Seiten habe der Richter den auf Seiten 5 und 6 in Fettdruck hervorgehobenen Befangenheitsantrag nicht übergehen dürfen. Dies gelte umso mehr für die Wiederholung des Befangenheitsantrags in dem nur 5 Seiten umfassenden Folgeschriftsatz.

Gericht muss Schriftsätze zeitnah lesen

Darüber hinaus stellte das OLG klar, dass eine Prozesspartei auch bei Einreichung eines besonders umfangreichen Schriftsatzes die berechtigte Erwartung haben dürfe, dass das Gericht sein Vorbringen unabhängig von der Arbeitsbelastung zur Kenntnis nimmt. Umgekehrt dürfe das Gericht die Kenntnisnahme von Schriftsätzen nicht bis zur mündlichen Verhandlung zurückstellen, da auf diese Weise auch die Gefahr bestehe, dass erforderliche, den Prozess fördernde Maßnahmen unterbleiben.

Besorgnis der Befangenheit gerechtfertigt

In Form diverser Verfügungen wie Fristsetzungen und die Gewährung von Fristverlängerungen trotz gestellten Befangenheitsantrags hat der zuständige Richter nach der Bewertung des Senats die Wartepflicht des § 47 Abs. 1 ZPO verletzt. Aufgrund dieser Rechtsverletzungen sei die Besorgnis der Befangenheit gerechtfertigt.

(OLG Karlsruhe, Beschluss v. 11.5.2022, 9 W 24/22)


Hintergrund:

Die auf den ersten Blick plausible Entscheidung des OLG geht nach einer Kommentierung des Richters Benedikt Windau vom 2.8.2022 im Anwaltsblatt etwas an der Realität vorbei. In der Praxis lasse die Arbeitsbelastung der Gerichte ein sofortiges und intensives Studium der eingehenden Schriftsätze häufig nicht zu. Viele Richter würden den Inhalt der eingehenden Schriftsätze erst kurz vor dem Gerichtstermin oder erst dann, wenn die Sache ausgeschrieben sei, vollständig zur Kenntnis nehmen. Dies sollte – so Windau - den Anwälten bei ihren Eingaben bewusst sein.

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