Rz. 33

Die Durchsetzung des allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruchs (s. dazu § 29 Rdn 145 ff.) nach Ablauf der Kündigungsfrist während der Dauer eines Kündigungsschutzprozesses des Arbeitnehmers ist im Wege der einstweiligen Verfügung nur unter strengen Voraussetzungen möglich, da die Beschäftigung des Arbeitnehmers eine Befriedigung des Arbeitnehmers darstellt.

 

Rz. 34

Überdies ist der Arbeitnehmer in der Lage, im Hauptsacheverfahren einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung anhängig zu machen, der nach einem obsiegenden Urteil in der ersten Instanz vollstreckbar ist. Dem Arbeitnehmer ist es grds. zuzumuten, den Ausgang des Rechtsstreites in der ersten Instanz abzuwarten, sodass nur ausnahmsweise ein Bedürfnis für einstweiligen Rechtsschutz im Zeitraum zwischen Ablauf der Kündigungsfrist und dem Ausgang des erstinstanzlichen Kündigungsschutzprozesses besteht. Nach der Entscheidung des Großen Senates des BAG v. 27.2.1985 ist dies der Fall, wenn die Kündigung offensichtlich unwirksam ist, d.h. die Unwirksamkeit der Kündigung muss ohne jeden vernünftigen Zweifel in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht offen zutage treten (BAG v. 27.2.1985 – GS 1 /84, NZA 1985, 702 = DB 1985, 2197). Dies ist z.B. der Fall, sofern die Kündigung ohne vorherige Beteiligung des Betriebsrates oder ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamtes bei einem schwerbehinderten Arbeitnehmer erfolgt ist. Gleiches gilt, wenn die Kündigung wegen einer gewerkschaftlichen Tätigkeit des Arbeitnehmers ausgesprochen worden ist (ArbG Berlin v. 7.4.2010 – 29 Ga 5197/10, juris) oder der Arbeitgeber den Sonderkündigungsschutz des Arbeitnehmers als Wahlvorstandsmitglied nicht berücksichtigt (LAG Berlin-Brandenburg v. 12.1.2022 – 23 SaGa 1521/21).

 

Rz. 35

Die Voraussetzungen des Verfügungsgrundes entsprechen denen bei einer einstweiligen Verfügung im bestehenden Arbeitsverhältnis (vgl. Rdn 29). So hat etwa das LAG Brandenburg den Weiterbeschäftigungsanspruch eines Chefarztes bei einer offensichtlich unwirksamen Änderungskündigung bejaht, da andernfalls die Gefahr bestehe, dass der Arzt seine Fachkenntnisse (hier: die Durchführung von Operationen) verliere. Überdies sei ein Ansehensverlust nach 25-jähriger Tätigkeit zu befürchten (LAG Brandenburg v. 28.1.1997 – 8 Sa 815/96, MedR 1997, 368).

 

Rz. 36

Die Interessenlage ändert sich jedoch, wenn im Kündigungsprozess ein erstinstanzliches Urteil ergeht, das die Unwirksamkeit der Kündigung feststellt. Von diesem Zeitpunkt an besteht eine überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass das Arbeitsverhältnis fortbesteht. Der Arbeitgeber hat demnach vorzutragen, dass besondere Gründe der Weiterbeschäftigung entgegenstehen. Es wird jedoch regelmäßig an dem Vorliegen eines Verfügungsgrundes fehlen, da der Arbeitnehmer die Möglichkeit besitzt, im Hauptsacheverfahren einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung geltend zu machen, der bei Obsiegen in der ersten Instanz vollstreckbar ist. Sofern der Arbeitnehmer diesen Antrag nicht stellt, mangelt es an der Eilbedürftigkeit (LAG Köln v. 17.2.2021 – 3 SaGa 2/21, juris; LAG Hessen v. 23.3.1987 – 1 SaGa 316/87, NZA 1988, 37).

 

Rz. 37

Vom allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch ist der betriebsverfassungsrechtliche Weiterbeschäftigungsanspruch gem. § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG zu unterscheiden. Hat der Betriebsrat einer ordentlichen Kündigung frist- und ordnungsgemäß widersprochen und hat der Arbeitnehmer nach dem KSchG Klage auf Feststellung erhoben, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist, so muss der Arbeitgeber auf Verlangen des Arbeitnehmers diesen nach Ablauf der Kündigungsfrist bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreites zu unveränderten Bedingungen weiterbeschäftigen (zum Weiterbeschäftigungsanspruch s. § 29 Rdn 145 ff.).

 

Rz. 38

Die Voraussetzungen des Anspruches auf Weiterbeschäftigung bestehen darin, dass der Betriebsrat aus den Gründen des § 102 Abs. 3 BetrVG widersprochen hat und sich auf einen der gesetzlich normierten Widerspruchsgründe des Abs. 3 beruft; der Arbeitnehmer hat dann binnen 3 Wochen Klage zu erheben und ausdrücklich vorläufige Weiterbeschäftigung zu verlangen.

 

Rz. 39

Der Weiterbeschäftigungsanspruch gem. § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG kann entweder im Wege der Klage im Urteilsverfahren als auch im Wege der einstweiligen Verfügung durchgesetzt werden. Es ist umstritten, ob es des Vorliegens eines Verfügungsgrundes bedarf. Einerseits wird die Auffassung vertreten, dass sich das Sicherungsinteresse bereits aus der Rechtsnatur des Verfügungsanspruches ergebe. § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG wolle verhindern, dass die Reintegration des Arbeitnehmers durch die Nichtbeschäftigung während des Rechtsstreites erschwert werde (ArbG Hamburg v. 12.6.2008 – 9 Ga 14/08, juris; LAG Hamm v. 24.1.1994 – 19 Sa 2029/93, EzA-SD 1994, Nr. 6, 17). Diese Ansicht überzeugt nicht. Im Gegensatz zur Entbindungsmöglichkeit des Arbeitgebers von der Weiterbeschäftigungsverpflichtung gem. § 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG im Wege der einstweiligen Verfügung hat der Gesetzgeber diese Möglic...

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