Rz. 45

Jeder Rechtsanwalt mag sich bei seiner Abwägung zwischen den oben genannten Theorien zur Bestimmung des widerstreitenden Interesses fragen (vgl. hierzu oben Rdn 16 ff.), welche Auffassung dem Ansehen der Anwaltschaft insgesamt mehr Schaden als dem einzelnen Anwalt – möglicherweise aufgrund des höheren Gebührensaufkommens – kurzfristigen Nutzen bringt. Können wir Anwälte wollen – wie es teilweise in der Literatur tatsächlich formuliert wird –, dass wir im Rahmen der Auseinandersetzung einer Erbengemeinschaft widerstreitende Interessen vertreten dürfen, soweit wir "keine gegensätzlichen rechtlichen oder tatsächlichen Standpunkte (einnehmen)"?[111] Sollten wir ein Interesse daran haben, nicht die "gegensätzlichen Standpunkte (unserer Mandanten) zur Geltung (zu) bringen, (wenn) diese sich ausdrücklich mit der gemeinsamen Vertretung einverstanden erklärt haben"?

Warum sollten wir?

 

Rz. 46

Es gibt in der erbrechtlichen Praxis – auch und gerade bei der Vertretung von Miterben – keinen Grund, der es rechtfertigen könnte, unter diesen Voraussetzungen als Rechtsanwalt tätig zu sein. Man muss sogar die Frage aufwerfen, ob man hier überhaupt noch als Rechtsanwalt tätig ist oder nicht eines der obersten Prinzipien der anwaltlichen Tätigkeit opfert: die absolute Parteilichkeit zugunsten des von uns vertretenen Mandanten.[112] Neben dem Gebot der Verschwiegenheit und der Unabhängigkeit gehört die Parteilichkeit zu den "drei Säulen" des anwaltlichen Berufes und unterscheidet die Anwaltschaft von jedem anderen Beruf, insbesondere auch anderen nach dem RDG zulässigen sonstigen Rechtsdienstleistern.

 

Rz. 47

Als unabhängige Berater und Vertreter des Mandanten sind dessen Interessen durch den Rechtsanwalt bestmöglich einseitig zu wahren und durchzusetzen. Damit nimmt die Anwaltschaft eine der wichtigsten und in einem Rechtsstaat unentbehrlichen Aufgaben in der Rechtspflege wahr. Allein der begründete Verdacht, dass ein Anwalt möglicherweise in einen Interessengegensatz geraten könnte, muss zur Sicherung dieses Grundsatzes, aber auch zur Wahrung des Ansehens der Anwaltschaft verhindert werden.[113]

 

Rz. 48

Es kann daher nicht im Interesse der Anwaltschaft sein, dass der Rechtsanwalt im ersten Beratungsgespräch über einen möglichen Interessengegensatz aufklärt, nachdem ihm die Mandanten ihre Situation geschildert haben – und er dann womöglich beide Mandanten nicht mehr vertreten darf, weil sie an diesen Interessengegensatz im Vorfeld nicht gedacht haben (objektiv-subjektive Theorie, siehe oben Rdn 20). Noch weniger darf man den Mandanten hier jedoch "sich selbst überlassen" und allein auf sein Einverständnis vertrauen (subjektive Theorie, siehe oben Rdn 19): Tatsächlich kann der Mandant doch nur ein beachtliches Einverständnis erteilen, wenn ihm die gesamte (erb-)rechtliche Situation bewusst ist.

 

Rz. 49

Jeder andere als eine objektive Betrachtungsweise des Interessengegensatzes (objektive Theorie, oben Rdn 18) schadet letztlich dem Mandant. Er erhält auf der einen Seite keine optimale Vertretung seiner rechtlichen Interessen. Auf der anderen Seite läuft er Gefahr, erneut Anwaltsvergütung zahlen zu müssen, wenn er sein ursprünglich erklärtes Einverständnis zurücknehmen und sich einen neuen Anwalt suchen muss.

Für die erbrechtliche Praxis gelten auch nicht die in anderen Rechtsgebieten möglicherweise beachtlichen Eingriffe in die Berufsfreiheit des Rechtsanwalts, wenn bereits die bloß theoretische Möglichkeit eines Interessenwiderstreits zum Verbot der Annahme bzw. Fortsetzung des Mandats führen würde. Denn im Rahmen der Vertretung von Miterben kann der Anwalt dies sogleich ausschließen, in dem er noch vor Beginn der eigentlichen Beratung und noch bevor ihm etwas anvertraut wurde (vgl. oben Rdn 11) deutlich macht, dass er ausschließlich einen der erschienen Miterben vertreten kann. Eine Einschränkung der Berufsfreiheit folgt daraus nicht.

[111] So wörtlich Grunewald, ZEV 2006, 386, 389.
[112] BVerfG, Beschl. v. 3.7.2009 – 1 BvR 238/01, juris Rn 43; vgl. hierzu auch bereits oben Rdn 5.
[113] Im Ergebnis ebenso: Bayerisches Oberstes Landesgericht, Urt. v. 26.7.1989 – RReg 3 St 50/89, juris Rn 8.

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