Rz. 4

Um zu prüfen, ob ein Fall der Wahrnehmung widerstreitender Interessen vorliegt, wird der geneigte Rechtsanwalt mutmaßlich zunächst die BRAO und ergänzend die BORA heranziehen. Er wird fündig werden bei § 43a BRAO ("Grundpflichten"), dort im Abs. 4[1] sowie § 3 BORA ("Widerstreitende Interessen, Versagung der Berufstätigkeit"). Viel bedeutsamer ist aber – worauf Kleine-Cosack völlig zu Recht hinweist[2] – das Verbot des Parteiverrats aus § 356 StGB. Kleine-Cosack geht sogar so weit zu behaupten, dass § 43a Abs. 4 BRAO "völlig überflüssig" sei.[3] Dem lässt sich wenig entgegenhalten: Einzig die Möglichkeit, den berufsrechtlichen Verstoß nach § 43a Abs. 4 BRAO auch fahrlässig zu begehen, während der Parteiverrat nach § 356 StGB Vorsatz erfordert, unterscheidet die Regelungsbedeutung.[4] Auch die Wiederholung in § 3 BORA erweitert oder begrenzt die Pflichten für den Rechtsanwalt nicht. Lediglich die Erstreckung auf die Sozietät geht über die Regelung des § 43a Abs. 4 BRAO hinaus und erweitert so die berufsrechtliche Möglichkeit eines Verstoßes, nicht hingegen die strafrechtliche.[5] Henssler hält die Normen der §§ 43a Abs. 4, 45 BRAO, § 3 BORA und § 356 StGB für "intransparent, inkohärent, lückenhaft und missverständlich".[6]

 

Rz. 5

Nach der Rechtsprechung des BVerfG dient das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen neben dem Schutz des individuellen Vertrauensverhältnisses zwischen Anwalt und Mandant, der Wahrung der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts und dem Gemeinwohl in Gestalt der Rechtspflege,

Zitat

die auf eine Geradlinigkeit der anwaltlichen Berufsausübung angewiesen ist, also darauf, dass ein Anwalt nur einer Seite dient. All diese Belange treten nebeneinander und bedingen einander

(…) Als unabhängige Organe der Rechtspflege und als berufene Berater und Vertreter der Rechtsuchenden haben Anwälte die Aufgabe, sachgerechte Konfliktlösungen herbeizuführen, vor Gericht zugunsten ihrer Mandanten den Kampf um das Recht zu führen und dabei zugleich staatliche Stellen möglichst vor Fehlentscheidungen zu Lasten ihrer Mandanten zu bewahren (vgl. BVerfGE 76, 171, 192). Die Wahrnehmung anwaltlicher Aufgaben setzt den unabhängigen, verschwiegenen und nur den Interessen des eigenen Mandanten verpflichteten Rechtsanwalt voraus. Diese Eigenschaften stehen nicht zur Disposition der Mandanten. Der Rechtsverkehr muss sich darauf verlassen können, dass der Pflichtenkanon des § 43a BRAO befolgt wird, damit die angestrebte Chancen- und Waffengleichheit der Bürger untereinander und gegenüber dem Staat gewahrt wird und die Rechtspflege funktionsfähig bleibt (vgl. BVerfGE 63, 266, 284; 93, 213, 236).[7]

 

Rz. 6

So vermeintlich klar und eindeutig die Entscheidung des BVerfG und der Gesetzeswortlaut[8] klingen mag, so schwierig ist es gleichwohl die Sachverhalte und deren Rechtsfolgen in der Praxis klar voneinander abzugrenzen. Die Diskussion über die Auslegung der Normen bewegt sich dabei im Spannungsfeld zwischen den eben genannten Belangen des Mandanten und der Allgemeinheit einerseits und eines rechtswidrigen Eingriffes in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit des Rechtsanwalts andererseits.

[1] Es ist nicht gerade ein Zeichen durchdachter Gestaltungsarbeit des Verordnungsgebers, wenn eine derart zentrale Norm ("Grundpflichten") bei weitreichenden Ergänzungen und Änderungen (aufgrund des RPNeuOG vom 2.9.1994) einer Verordnung mit einem Ordnungsbuchstaben versehen werden muss.
[2] Kleine-Cosack, BRAO, § 43a Rn 138.
[3] Kleine-Cosack, BRAO, § 43a Rn 138; Henssler spricht von der "Identität" objektiven Tatbestands, AnwBl 2013, 668, 669.
[4] Kleine-Cosack, BRAO, § 43a Rn 138; Henssler, AnwBl 2013, 668, 669.
[5] Kleine-Cosack, BRAO, § 43a Rn 138.
[6] Henssler, AnwBl 2013, 668, 669.
[8] § 3 Abs. 2 BORA ist nach der o.a. Entscheidung des BVerfG, das diese Norm für nichtig erklärt hatte, umformuliert worden.

1. "Dieselbe Rechtssache"

 

Rz. 7

Anknüpfungspunkt in berufsrechtlicher Hinsicht ist zunächst die Formulierung des § 3 Abs. 1 BORA, worin das Verbot der Wahrnehmung widerstreitender Interessen aus § 43a Abs. 4 BRAO näher bezeichnet wird. Danach kommt es zunächst darauf an, ob der Anwalt mit "derselben Rechtssache" bereits befasst war. Die Satzungsversammlung hat damit die Formulierung des § 356 StGB übernommen. Nach der Rechtsprechung des Senates des BGH für Anwaltssachen umfasst dieselbe Rechtssache

Zitat

"alle Rechtsangelegenheiten, in denen mehrere ein entgegengesetztes rechtliches Interesse verfolgende Beteiligte vorkommen können (…). Maßgebend ist dabei der sachlich-rechtliche Inhalt der anvertrauten Interessen, also das anvertraute materielle Rechtsverhältnis, das bei natürlicher Betrachtungsweise auf ein innerlich zusammengehöriges, einheitliches Lebensverhältnis zurückzuführen ist (…)".[9]

 

Rz. 8

Dabei kommt es – das legt der Begriff "Lebensverhältnis" auch nahe – nicht etwa auf eine Identität der geltend gemachten Ansprüche an.[10] Ein zugrundeliegendes einheitliches Lebensverh...

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