Rz. 7

Anknüpfungspunkt in berufsrechtlicher Hinsicht ist zunächst die Formulierung des § 3 Abs. 1 BORA, worin das Verbot der Wahrnehmung widerstreitender Interessen aus § 43a Abs. 4 BRAO näher bezeichnet wird. Danach kommt es zunächst darauf an, ob der Anwalt mit "derselben Rechtssache" bereits befasst war. Die Satzungsversammlung hat damit die Formulierung des § 356 StGB übernommen. Nach der Rechtsprechung des Senates des BGH für Anwaltssachen umfasst dieselbe Rechtssache

Zitat

"alle Rechtsangelegenheiten, in denen mehrere ein entgegengesetztes rechtliches Interesse verfolgende Beteiligte vorkommen können (…). Maßgebend ist dabei der sachlich-rechtliche Inhalt der anvertrauten Interessen, also das anvertraute materielle Rechtsverhältnis, das bei natürlicher Betrachtungsweise auf ein innerlich zusammengehöriges, einheitliches Lebensverhältnis zurückzuführen ist (…)".[9]

 

Rz. 8

Dabei kommt es – das legt der Begriff "Lebensverhältnis" auch nahe – nicht etwa auf eine Identität der geltend gemachten Ansprüche an.[10] Ein zugrundeliegendes einheitliches Lebensverhältnis ist somit insbesondere eine Erbengemeinschaft. Denn es kommt

weder auf die beteiligten Personen
noch den zeitlichen Ablauf (parallel oder nacheinander) an.[11]
 

Rz. 9

Während also in vielen anderen Rechtsgebieten umfangreich darüber gestritten werden mag, ob "dieselbe Rechtssache" vorliegt, so ist dies im Erbrecht einfach auf die Gleichung

derselbe Erbfall = dieselbe Rechtssache

zu bringen. Der BGH sieht es als die

"Klammerwirkung des vom Erbfall bestimmten Nachlassbestandes".[12]

 

Rz. 10

 

Praxistipp

In erbrechtlichen Angelegenheiten sollte die Kollisionskontrolle immer über den Namen des Erblassers erfolgen: Um diesen "drehen" sich alle Auseinandersetzungen, so dass jeder mögliche Anspruchsinhaber oder Gegner denselben Namen nennen wird.

Bei der Aktenanlage sind deswegen nicht ausschließlich mögliche Anspruchsteller und sonstige Beteiligte namentlich in der Adressverwaltung (ggf. als "Gegner") zu erfassen, sondern gleichermaßen der Erblasser.[13]

 

Rz. 11

Auch die vorhergehende Beratung des Erblassers bei der Errichtung einer letztwilligen Verfügung von Todes wegen und ein sich daran anschließendes Mandat im Rahmen der Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft oder auch der Abwehr bzw. Geltendmachung von Ansprüchen aus dem Pflichtteilsrecht u.Ä. betrifft "dieselbe Rechtssache" (vgl. zu den Tätigkeitsverboten des § 45 Abs. 1 BRAO unten Rdn 50). Somit bezeichnet "Erbfall" in der oben genannten Gleichung (siehe Rdn 9) auch den künftigen Erbfall: Nur so wird dem Schutz des Mandanten umfassend und damit ausreichend Rechnung getragen.

 

Beispiel

Erblasser Erwin (E) hat sich von Rechtsanwalt Richtig (R) bei der Errichtung seines Testamentes beraten lassen. Ein Ziel seiner Gestaltung war es, die Pflichtteilsansprüche seiner Tochter Thea (T) bestmöglich zu reduzieren. Im Rahmen der Beratung hat E seine Vermögensverhältnisse R umfassend mitgeteilt, da nur so eine optimale Gestaltung der letztwilligen Verfügung möglich ist.

Nach dem Tod des E bittet T den ihr durch ihren Vater bekannten R um die Vertretung im Rahmen der Geltendmachung ihrer Pflichtteilsansprüche gegenüber dem Alleinerben des E.

 

Rz. 12

Wer denkt, dass dieses Beispiel eindeutig und R "selbstverständlich" gehindert sei, T zu vertreten, wird sich wundern, mit welcher Nonchalance nicht nur Teile der Literatur, sondern auch mit dieser Frage befasste Rechtsanwaltskammern umgehen und keine berufsrechtlichen Probleme sehen – von strafrechtlichen ganz zu schweigen.[14] Führt man sich dabei vor Augen, dass "der sachlich-rechtliche Inhalt der anvertrauten Interessen"[15] prägend für die Definition "derselben Rechtssache" ist, wird es schlechterdings unverständlich, weshalb im vorgenannten Beispiel ernsthaft vertreten wird, dass weder ein Parteiverrat noch ein Tätigkeitsverbot (hierzu unten Rdn 50) vorliegt. Denn der Alleinerbe tritt als Gesamtrechtsnachfolger gem. § 1922 BGB in sämtliche Rechte und Pflichten des E ein – auch in die Rechte aus dem mit R geschlossenen Vertrag. Er soll sich gleichwohl als gegnerischem Anwalt der Person gegenübersehen müssen, die zuvor nicht nur das Testament entworfen hat, sondern auch umfassende Kenntnisse über die wirtschaftlichen Verhältnisse des E hat, womöglich bessere als er selbst?

 

Rz. 13

"Dieselbe Rechtssache" liegt insbesondere auch dann vor, wenn das, was dem Rechtsanwalt "anvertraut" wurde, in einem anderen Auftragsverhältnis Bedeutung erlangen könnte.[16] Anvertrauen bedeutet nicht die Offenbarung eines Geheimnisses oder die Mitteilung einer Tatsache, die dem Rechtsanwalt auf andere Weise nicht bekannt geworden wäre. Vielmehr ist auch "anvertraut", was er aus anderen Quellen, insbesondere dem Vorbringen des Gegners entnehmen konnte.[17] Genügend ist bereits das Anvertrauen gegenüber einem Angestellten des Rechtsanwalts.[18] Auch die (bloße) Mandatierung[19] oder Mitteilung eines Sachverhalts, um den Rechtsanwalt zur Übernahme des Mandats zu veranlassen, ist jedenfalls dann ausre...

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