Rz. 102

Im Rahmen der familiengerichtlichen Regelung des Umgangs ist der Kindeswille als Ausdruck seines Persönlichkeitsrechts mit den Rechte seiner beiden Elternteile abzuwägen (siehe im Einzelnen § 1 Rdn 304 ff.).[371] Dem Alter und Reifestand des Kindes kommt hierbei wesentliche Bedeutung zu.[372] Bei einem kleineren Kind stehen stärker objektive Kriterien im Blickpunkt, wohingegen der Wille älterer Kinder streitentscheidend sein kann.[373] Freilich ist auch bei diesen im Einzelfall eine Umgangsregelung gegen ihren ausdrücklichen Willen möglich.[374]

 

Rz. 103

Damit der Kindeswille beachtlich ist, muss er auf verständlichen, berechtigten, mithin subjektiv wie objektiv nachvollziehbaren Beweggründen beruhen.[375] Er muss autonom, intensiv, stabil, ernsthaft und zielorientiert sein. Kennzeichnend für einen autonomen zielgerichteten Willen ist, dass er Ausdruck der eigenen Bedürfnisse und nicht nur Reaktion auf die – ggf. auch nur vermeintlichen – Wünsche eines Elternteils ist. Auch muss das Kind eine bestimmte Vorstellung von den Folgen seines Wunsches haben. Ein stabiler Wille setzt voraus, dass eine Willenstendenz über eine gewisse Zeit, auch unter unterschiedlichen Umständen, beibehalten wird. Intensiv ist der Wille, wenn er Ausdruck eines Herzenswunsches, d.h. dem Kind wichtig ist.[376] Ein gegen den ernsthaften Widerstand des Kindes erzwungener Umgang kann durch die Erfahrung der Missachtung der eigenen Persönlichkeit unter Umständen mehr Schaden verursachen als nutzen. Selbst ein auf einer bewussten oder unbewussten Beeinflussung beruhender Wunsch kann beachtlich sein, wenn er Ausdruck echter und damit schützenswerter Bindungen ist. Das Außerachtlassen des beeinflussten Willens ist daher nur dann gerechtfertigt, wenn die manipulierten Äußerungen des Kindes den wirklichen Bindungsverhältnissen nicht entsprechen.[377] Das Gericht muss die ablehnende Haltung des Kindes daraufhin untersuchen, inwieweit sie mit dem wahren Kindeswillen in Einklang steht[378] oder auf Fremdbeeinflussung beruht und gegebenenfalls im Zuge wahrgenommener Kontakte überwunden werden kann. Das Gericht muss mit besonderer Intensität versuchen, das Kind von der Bedeutsamkeit der Kontakte zu überzeugen und es zu einer eigenständigen Prüfung seiner ablehnenden Haltung veranlassen.[379] Gegebenenfalls ist auch gegen den Kindeswillen eine behutsame Umgangsregelung zu treffen, etwa in der Form begleiteten Umgangs.[380] Die Grenze wäre aber dort überschritten, wo eine Pflicht zur Ausübung von Umgangskontakten zu einer Kindeswohlgefährdung führen würde.[381] Dennoch muss der betreuende Elternteil aufgrund seiner § 1684 Abs. 2 BGB entspringenden Umgangsförderungspflicht[382] dazu beitragen, den entgegenstehenden Kindeswillen zu überwinden.[383] Hierbei kommt dem Alter des Kindes wesentliche Bedeutung zu.[384]

 

Rz. 104

Da dem Kindeswillen bei der Entscheidung kein absoluter Vorrang zukommt[385] und er nur zu berücksichtigen ist, soweit er mit dem Kindeswohl vereinbar ist,[386] kommt der Anhörung des Kindes im gerichtlichen Verfahren (§ 159 FamFG, siehe dazu § 1 Rdn430 ff.) erhebliche Bedeutung zu. Da der geäußerte Wille nicht zwingend dem wahren Willen des Kindes entspricht,[387] haben die Gerichte das Verfahren so auszugestalten, dass sie eine Entscheidung treffen können, die am Kindeswohl orientiert ist.[388] Hierzu kann auch die Bestellung eines Verfahrensbeistands (§ 158 FamFG) gehören (siehe dazu § 5 Rdn 1 ff.),[389] um so den Standpunkt des Kindes und die Intensität seiner persönlichen Beziehungen zum umgangsberechtigten Elternteil eingehender zu beleuchten. Im Einzelfall wird auch ein Sachverständigengutachten eingeholt werden müssen (zu dessen Nachteilen siehe § 1 Rdn 397). Dies ist insbesondere dann erforderlich, wenn das Gericht Zweifel hat, ob der vom Kind geäußerte Wille mit seinem wahren Willen in Einklang steht. Allerdings ist hier stets zu beachten, dass auch durch stete Beeinflussung ein "wahrer", vom Kind als eigener Wille erlebter "Wille" entstehen kann, dessen Achtung im Einzelfall notwendig ist, will man nicht das Kind gefährden. Hier dringt man in die Grenzbereiche des rechtlich erfass- und regelbaren und damit richterlicher Entscheidungsmacht vor; Patentrezepte gibt es nicht (siehe § 1 Rdn 304 ff.).

[371] BVerfG FamRZ 1999, 641; BGH FamRZ 1980, 130.
[374] OLG Brandenburg JAmt 2003, 261.
[375] BGH FamRZ 1980, 131; OLG Saarbrücken OLGR 2005, 616.
[376] OLG Koblenz FamRZ 2014, 2010; KG FamRZ 2013, 709.
[377] BVerfG FamRZ 2015, 1091.
[379] BVerfG FamRZ 2001, 1057; BGH FamRZ 1980, 131.
[380] KG FamRZ JAmt 2003, 263; 2001, 368.
[381] OLG Rostock ZfJ 1999, 399, OLG Karlsruhe FamRZ 1990, 901; AG Westerstede FamRZ 2010, 44.
[382] Siehe dazu auch Burschel, Wie weit geht die Pfli...

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