Schon seit vielen Jahren ist es äußerst schwierig, eine transparente und nachvollziehbare Entscheidungspraxis bei der Abgrenzung zwischen Selbstständigkeit und abhängiger Beschäftigung im Rahmen der Sozialversicherung zu erkennen.
Das "Herrenberg-Urteil"
Doch warum die Unsicherheit oder sogar Verärgerung? Auslöser war die Stadt Herrenberg, die sich als Trägerin ihrer Musikschule dagegen wehrte, dass die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund) im Rahmen eines Statusfeststellungsverfahren eine Klavierlehrerin als sozialversicherungspflichtige Beschäftigte beurteilt hatte. Vor der zweiten Instanz wurde der Stadt Recht gegeben, aber das BSG hob dieses Urteil auf. Die Musikschullehrerin wurde also sv-pflichtig.
Und das, obwohl im letzten Urteil von 2018 der ebenfalls auf honorarvertraglicher Basis tätige Gitarrenlehrer einer anderen Musikschule als selbstständig beurteilt worden war. Besonders bedauerlich erscheint dies vor dem Hintergrund, dass eine nachträgliche Verbeitragung eines Arbeitnehmers extreme Folgen haben kann und insbesondere bei kleineren Einheiten wie eben den erwähnten Musikschulen sogar zur Existenzbedrohung werden kann.
SV-Prüfungen und Säumniszuschlag
Wir sind uns vermutlich größtenteils darüber im Klaren, dass die Sozialversicherungsbeiträge derzeit bei ca. 21 Prozent für Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils liegen, d.h. bei einer Nachzahlung muss der vermeintliche Arbeitgeber hier also mit ca. 42 Prozent Beitragslast rechnen, abhängig von der jeweils zuständigen Krankenkasse und deren Zusatzbeiträgen. Auf diese Belastung kommt dann noch oftmals der Säumniszuschlag, der sich in der Sozialversicherung als Relikt aus vergangenen Zeiten immer noch auf 1 Prozent pro Monat beläuft.
Wir sprechen also bei SV-Prüfungen, die einen Umfang von in der Regel vier Jahren haben, von bis zu 48 Prozent Säumniszuschlag. Das ist eine Größenordnung, die es heutzutage noch nicht einmal bei hochvolumigen Darlehen gibt. Auch wenn diese Thematik andere Grundlagen hat, stellt sich durch aus auch hier die Frage nach der Zulässigkeit oder besser noch Sinnhaftigkeit eines solchen Ansatzes. Eine Strafe für einen Fehler anzusetzen ist durchaus verständlich - sicher wäre ein "Lerneffekt" aber auch bei einem Säumniszuschlag von 10 Prozent durchaus gegeben.
Sinn und Unsinn des Statusfeststellungsverfahrens
Doch bleiben wir beim Statusfeststellungsverfahren. Basis bildet hier der Begriff der Beschäftigung, worunter die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis gefasst wird. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung ist, dass Tätigkeiten nach Weisungen und zudem eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers erfolgen; die freie Gestaltung der Arbeitszeit, eigene Betriebsmittel, letztlich also das Vorhandensein eines Unternehmerrisikos, entscheiden über den Einzelfall.
Und hier wird es jetzt extrem individuell: Der für Statusfragen zuständige Zwölften Senat des BSG wies wiederholt darauf hin, dass bestimmte berufliche Tätigkeiten sowohl in abhängiger Beschäftigung als auch selbstständig ausgeübt werden können. Vielleicht ist es ein wenig nachvollziehbar, dass wir sehr viele unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten von Personal in Deutschland haben und diese nicht alle über einen Kamm geschert werden können.
Wo aber liegt der Sinn, eine selbstständige Tätigkeit, die es seit vielen Jahren gibt, plötzlich anders zu beurteilen? Mag dies vielleicht noch für eine Entscheidung für die Zukunft verständlich sein, sollte dann doch wenigstens die Vergangenheit belastbar sein.
Nun mag man argumentieren, dass genau dazu die Statusfeststellungsverfahren dienen sollen: Vor einer Beauftragung zu prüfen, ob man diese in Form einer Beauftragung eines selbstständigen Dienstleisters umsetzen kann. Wenn hier nun eine praxistaugliche Zeitachse zum Ansatz käme, wäre auch das sicherlich noch akzeptabel. Allerdings kann ein Statusfeststellungsverfahren rasch ein Zeitfenster von drei bis sechs Monaten in Anspruch nehmen - in der Zeit wäre der Auftrag schon verloren. Geht ein Auftraggeber davon aus, dass er die Scheinselbstständigkeit korrekt umgesetzt hat, drohen ihm im Zweifelsfall hohe Nachforderungen. Wie also soll hier ein Auftraggeber gegenüber einem Kunden eine belastbare Kalkulation ausführen? Bei 40 Prozent Aufschlag auf die Preise würden sich potentielle Interessenten wohl rasch zurückziehen.
Versucht der Dienstleister dieser Unsicherheit vorzubeugen, hat er die Mehrkosten. Versichert er – schlimmer noch - den für ihn im Einsatz Befindlichen, ist die Antwort der Behörde schon fast vorprogrammiert: Da der Arbeitgeber selbst ja von einer sv-pflichtigen Beschäftigung ausgehe, werde es wohl auch eine sein und, schwups, ist die Beschäftigung auch im Rahmen des Statusfeststellungsverfahrens sv-pflichtig.
Eigentlich sollten die Senate sich den Entwicklungen des Arbeitsmarkts anpassen
Dabei sind hier nicht nur Musiklehrer betroffen. Viele Selbstständige aus der IT-Branche erfüllen auf den ersten Blick scheinbar die Kriterien der Deutschen Rentenversicherung nicht: Sie haben oftmals keine Mitarbeiter, sind Einzelkämpfer und Spezialisten in ihren Aufgaben und werden "gerufen", wenn genau diese Expertise benötigt wird, z. B. bei der Programmierung und Anpassung von Software. Diese Aufgaben sind oftmals auf wenige Monate begrenzt und dann ziehen diese Experten weiter. Welchen Sinn sollte hier eine abhängige Beschäftigung für die Beteiligten haben? Das Projekt kann im Vorfeld nicht genau umfasst werden, daher kann auch kein genauer Ende-Zeitpunkt für einen Vertrag erstellt werden. Das Ende ist also oftmals abhängig von der Herstellung des gewünschten Ergebnisses. Ist dies erreicht, kommt für den Selbstständigen der nächste Auftrag. Der Kunde möchte dann ebenfalls keine weiteren Zahlungen mehr leisten, wenn der Experte doch gar nicht mehr im Einsatz ist. Man könnte auf eine Zweckbefristung abheben, aber eine abhängige Beschäftigung hat noch andere Konsequenzen: Warum sollte Urlaub gewährt werden, wenn man den Umfang der Aufgabe bzgl. der täglichen Einsatzzeit gar nicht abschätzen kann? Und warum auf die Zustimmung eines Betriebsrates warten, wenn es jetzt akut Bedarf gibt?
Eigentlich sollten die Rahmenbedingungen doch für die deutsche Wirtschaft generell vereinfacht werden. Seit Jahren erzeugen wir durch solche unterschiedlichen Beurteilungen von Sachverhalten eher Angst und Unsicherheit und damit auch Zurückhaltung bei Entscheidungen. Dabei sollten sich insbesondere die Senate den Entwicklungen des Arbeitsmarkts anpassen.
Weisungsrecht lässt sich mittlerweile kaum mehr beurteilen: Freie Berufe, deren Kennzeichen die fachliche Selbstständigkeit und Unabhängigkeit sind, z. B. Ärztinnen, Rechtsanwälte, aber eben auch Lehrerinnen oder Erzieher müssen doch stets und ständig frei entscheiden und oft auch direkt die vollen Konsequenzen für ihre Entscheidungen tragen.
Warum kann man nicht die beteiligten Parteien entscheiden lassen? Wir sprechen hier in der Regel bei den Auftraggebern von Unternehmen, Krankenhäusern, Arztpraxen, Schulen oder anderen Einrichtungen, die meist selbst für ihren wirtschaftlichen Erfolg einstehen müssen. Bei den Auftragnehmern handelt es sich meist um Menschen, die in vollem Bewusstsein der Unsicherheit oder geringen Absicherung einer Selbstständigkeit sich trotzdem für diesen Weg entschieden haben.
Verlässliche Urteile schaffen verlässliche Rahmenbedingungen
Verständlicherweise soll verhindert werden, dass "selbstständige" Reinigungskräfte mit einem Stundensatz von 10 Euro Einsatz finden – ohne Mindestlohnanspruch und ohne sonstige Sicherheiten. Doch worin liegt die Sicherheit eines Statusfeststellungsverfahrens, wenn dieses durch ein Urteil aufgehoben werden kann? Zuletzt hatte der Zwölfte Senat des BSG zu entscheiden, ob mit dem "Herrenberg-Urteil" gegenüber früheren Entscheidungen eine Änderung der Rechtsprechung eingetreten ist. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hatte zugunsten einer klagenden Volkshochschule geurteilt, dass für Zeiträume vor dem "Herrenberg-Urteil" Vertrauensschutz für selbstständige Lehrverhältnisse nach Art. 20 Abs. 3 GG zu gewähren sei.
Doch was geschieht in der Praxis? Der Zwölfte Senat hat diese Entscheidung am 5. November 2024 ebenfalls aufgehoben und festgestellt, dass eine lehrende Tätigkeit bei entsprechender Vereinbarung nicht stets als selbstständig anzusehen wäre - obwohl dies 2018 so beurteilt wurde.
Bleibt zu hoffen, dass das "Herrenberg-Urteil" , das nun sogar in den Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD Eingang fand, nun eine Tür für eine verlässlichere Entscheidungsfindung öffnen wird. In Zeile 467 ff. des Koalitionspapiers heißt es: "Wir werden das Statusfeststellungsverfahren zügig im Interesse von Selbstständigen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Unternehmen schneller, rechtssicherer und transparenter machen, zum Beispiel auch mit Blick auf die Auswirkungen des Herrenberg-Urteils. Scheinselbstständigkeit wollen wir verhindern."
Ratsam wäre dabei, sich auch einmal die Wahrnehmung der Praktiker dazu anzuhören, die tagtäglich in diesem Umfeld tätig sind, um Aufträge kämpfen und bangen und trotzdem unterstellt wird, dass diese kein unternehmerisches Risiko haben. Wir alle freuen uns im Arbeitsalltag über verlässliche Rahmenbedingungen, aber diese müssen dann auch umsetzbar sein und dürfen nicht sofort wieder durch Urteile entkräftet werden.
Wenn beim Statusfeststellungsverfahren die Logik auf der Strecke bleibt
Und wenn wir noch einen weiteren Wunsch äußern dürfen, dann wäre doch eine Überprüfung der gesamten Statusfeststellungsverfahren sehr erquicklich. Einem Menschen heute noch zu vermitteln, warum er als Angehöriger, der im elterlichen Unternehmen mitarbeitet, ein Statusfeststellungsverfahren absolvieren soll, erscheint kaum möglich. Dies ließe sich beliebig fortsetzen: Warum soll ein freiberufliche Notärztin, die vor Ort über Leben und Tod entscheidet, aufgrund Einbeziehung in eine Rettungskette plötzlich nicht mehr selbstständig sein? Warum ist ein Inhaber einer deutschen GmbH selbstständig, der Eigentümer einer österreichischen GmbH wird aber als abhängig Beschäftigter klassifiziert?
Sozialversicherungsrechtliche Sicherheit ist wichtig und wird in Deutschland auch sicherlich hoch geschätzt. Aber einen Menschen in die SV zu zwingen, der seit 40 Jahren berufstätig ist und nun für vier Jahre noch in die deutsche Rentenversicherung einzahlen soll, oder besser sogar noch als Rentner versichert werden soll, da scheint jegliche Logik auf der Strecke geblieben zu sein.