EuGH stärkt Rechte von Schwerbehinderten

Einem Arbeitnehmer, der wegen seiner Behinderung seine Tätigkeit nicht mehr ausüben kann, darf auch in der Probezeit nicht ohne Weiteres gekündigt werden. Vielmehr müssen Arbeitgeber zunächst prüfen, ob eine anderweitige Beschäftigung möglich ist, entschied der EuGH.

Schwerbehinderte Arbeitnehmende sind grundsätzlich vor einer Kündigung besonders geschützt. Aufgrund der Regelungen im Sozialgesetzbuch müssen Arbeitgeber frühzeitig den Betriebsrat, die Schwerbehindertenvertretung und zumeist das Integrationsamt beteiligen. Innerhalb der sechsmonatigen Probezeit braucht es jedoch für eine Kündigung nach deutschem Recht keine soziale Rechtfertigung und keine Zustimmung des Integrationsamts. Die aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichtshof sollten Arbeitgeber künftig bei einer Probezeitkündigung von Mitarbeitenden mit Behinderung im Blick haben. Die Luxemburger Richter haben klargestellt, dass Arbeitgeber Mitarbeitende, die ihre Tätigkeit aufgrund ihrer Behinderung nicht mehr ausüben können, unter Umständen anderweitig beschäftigen müssen - unabhängig davon, ob die Einstellung zur Probe erfolgte.  

Der Fall: Belgische Eisenbahn kündigt Gleisarbeiter mit Schwerbehinderung in der Probezeit

Der Arbeitnehmer wurde im konkreten Fall von der belgischen Eisenbahngesellschaft, HR Rail, als Facharbeiter eingestellt, um die Schienenwege zu warten und instand zu halten. Innerhalb der Probezeit wurde bei ihm eine Herzkrankheit diagnostiziert, die einen Herzschrittmacher erforderlich machte. Ein solcher reagiert empfindlich auf elektromagnetische Felder, die unter anderem in Gleisanlagen verbreitet auftreten. Damit konnte der Arbeitnehmer die Aufgaben, für die er eingestellt wurde, nicht länger ausüben. Seine Behinderung wurde behördlich festgestellt, wobei es hieß, dass eine anderweitige Tätigkeit möglich sei. Nachdem das Unternehmen ihn darauf zunächst als Lagerist weiterbeschäftigte, beendete der Arbeitgeber schließlich die Probezeit. Er kündigte, weil der Arbeitnehmer aufgrund seiner Behinderung nicht mehr in der Lage gewesen sei, die ursprüngliche Tätigkeit auszuüben.

Belgisches Gericht befragt EuGH

Der Arbeitnehmer klagte vor dem belgischen Arbeitsgericht gegen seine Entlassung. Er machte geltend, wegen seiner Behinderung diskriminiert worden zu sein. Nach seiner Auffassung müsse das Unternehmen ihn anderweitig weiterbeschäftigen. Das belgische Arbeitsgericht hat das Verfahren ausgesetzt und den EuGH um Auslegung der europäischen Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie (Richtlinie 2000/78/EG) gebeten. Diese untersagt die Diskriminierung von Menschen mit Schwerbehinderung im Arbeitsverhältnis. Nach Art. 5 der Richtlinie muss der Arbeitgeber "angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen" treffen, um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten.

Pflicht des Arbeitgebers, Schwerbehinderte anderweitig zu beschäftigen?

Das belgische Arbeitsgericht hat festgestellt, dass der Arbeitnehmer nach belgischem Recht als behindert einzustufen ist. Vom EuGH wollte es wissen, ob "angemessene Vorkehrungen" auch bedeute, dass ein Arbeitgeber verpflichtet sein kann, eine Person, die aufgrund ihrer Behinderung nicht mehr in der Lage ist, die wesentlichen Funktionen ihres bisherigen Arbeitsplatzes zu erfüllen, an einem anderen Arbeitsplatz zu beschäftigen. Vorausgesetzt, dass er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit besitzt und eine solche Maßnahme keine übermäßige Belastung für den Arbeitgeber darstellt.

EuGH: Arbeitgeber muss anderweitige Weiterbeschäftigung prüfen

Dies hat der EuGH mit seiner aktuellen Entscheidung bestätigt. Wer wegen einer Behinderung seine bisherige Stelle nicht mehr ausüben kann, kann danach Anspruch auf eine für ihn passende Stelle im gleichen Unternehmen haben. Voraussetzung dafür ist, dass es eine freie Stelle gibt, die für den Arbeitnehmer geeignet ist. Zudem dürfe der Arbeitgeber nicht unverhältnismäßig belastet werden. Ob dies der Fall sei, hänge etwa vom finanziellen Aufwand sowie der Größe, den finanziellen Ressourcen und dem Gesamtumsatz des Unternehmens ab. Dies zu beurteilen, ist Sache der nationalen Gerichte.

EU-Richtlinie für Gleichbehandlung gilt auch in der Probezeit

Die Luxemburger Richter stellten klar, dass dies unabhängig von einer endgültigen Einstellung im Unternehmen ist. Der Umstand, dass sich der entlassene Arbeitnehmer zum Zeitpunkt seiner Kündigung noch in der Probezeit befand und noch nicht endgültig eingestellt war, führe nicht dazu, dass "seine berufliche Situation vom Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 ausgenommen sei".


Hinweis: EuGH, Urteil vom 10. Februar 2022 in der Rechtssache C‑485/20


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Schlagworte zum Thema:  Kündigung, Behinderung, Probezeit, Urteil, EU-Recht