EuGH, Urteil vom 10.2.2022, C-485/20

Ein Arbeitnehmer mit Behinderung, der für ungeeignet erklärt wird, die Aufgaben seiner bisherigen Stelle zu erfüllen, kann einen Anspruch auf Verwendung auf einem anderen – geeigneten – Arbeitsplatz haben, wenn eine solche Maßnahme den Arbeitgeber nicht unverhältnismäßig belastet. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer nach seiner Einstellung eine Probezeit absolviert.

Sachverhalt

Der Kläger wurde im November 2016 als Facharbeiter für die Wartung und Instandhaltung der Schienenwege eingestellt. Er begann hierbei seine Probezeit bei der für den Betrieb der Infrastruktur der belgischen Eisenbahn zuständigen Gesellschaft Infrabel. Nach knapp einem Jahr wurde bei ihm – noch in der Probezeit – ein Herzproblem diagnostiziert, das das Einsetzen eines Herzschrittmachers erforderlich machte. Da dieses sensibel auf elektromagnetische Felder reagierte, erkannte der Föderale öffentliche Dienst Soziale Sicherheit in Belgien eine Behinderung des Klägers an. Im Juni 2018 erklärte das mit der Beurteilung der medizinischen Eignung von Bediensteten der belgischen Eisenbahn betraute regionale Zentrum für Verwaltungsmedizin den Kläger für ungeeignet, seine Tätigkeit weiter zu erfüllen, so dass er in Folge als Lagerist eingesetzt wurde.

Im September 2018 erhielt der Kläger seine Entlassung mit der Begründung, es sei ihm endgültig völlig unmöglich, die Aufgaben, für die er eingestellt worden sei, zu erfüllen; denn anders als für statutarische Bedienstete sei für Bedienstete in der Probezeit, bei denen eine Behinderung anerkannt werde und die daher nicht mehr in der Lage seien, ihre Tätigkeit auszuüben, gemäß der Satzung und der für die Bediensteten der belgischen Eisenbahn geltenden Regelung keine Verwendung an einem anderen Arbeitsplatz innerhalb des Unternehmens vorgesehen.

Nachdem der Kläger beim belgischen Staatsrat beantragte, die Entscheidung über seine Entlassung für nichtig zu erklären, legte dieser dem EuGH die Frage zur Auslegung der Richtlinie 2000/78 für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, insbesondere zum Begriff "angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung" vor.

Die Entscheidung

Der EuGH stellte fest, dass die Auslegung der Richtlinie ergebe, dass ein Arbeitnehmer, der aufgrund seiner Behinderung für ungeeignet erklärt worden sei, die wesentlichen Funktionen seiner bisherigen Stelle zu erfüllen, auf einer anderen Stelle einzusetzen sei, für die er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweise, sofern der Arbeitgeber durch diese Maßnahme nicht unverhältnismäßig belastet werde. Dies gelte auch dann, wenn der Arbeitnehmer nach seiner Einstellung eine Probezeit absolviere.

Der EuGH führte hierzu aus, dass die Richtlinie 2000/78 einen allgemeinen Rahmen schaffen solle, der gewährleiste, dass jeder "in Beschäftigung und Beruf" gleichbehandelt werde, indem sie dem Betroffenen einen wirksamen Schutz vor Diskriminierungen biete. Hierbei sei nach Auffassung des Gerichtshofs die Bestimmung weit genug gefasst, dass unter deren Schutz auch der Arbeitnehmer falle, der nach der Einstellung durch seinen Arbeitgeber zu Ausbildungszwecken eine Probezeit absolviere.

Da gemäß der Richtlinie "angemessene Vorkehrungen" zu treffen seien, um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, müsse der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen. Hierzu zählten u. a. "wirksame und praktikable Maßnahmen, um den Arbeitsplatz der Behinderung entsprechend einzurichten, z. B. durch eine entsprechende Gestaltung der Räumlichkeiten oder eine Anpassung des Arbeitsgeräts, des Arbeitsrhythmus, der Aufgabenverteilung oder des Angebots an Ausbildungs- und Einarbeitungsmaßnahmen". Hierbei handele es sich jedoch nicht um eine abschließende Aufzählung geeigneter Maßnahmen; die Richtlinie enthalte vielmehr eine weite Definition des Begriffs "angemessene Vorkehrungen". So könne z. B. auch in Betracht kommen, den Arbeitnehmer, der wegen seiner Behinderung für seinen Arbeitsplatz endgültig ungeeignet geworden sei, an einem anderen Arbeitsplatz einzusetzen.

Jedoch, so der EuGH weiter, dürfe die Richtlinie 2000/78 den Arbeitgeber nicht dazu verpflichten, Maßnahmen zu ergreifen, die ihn "unverhältnismäßig belasten". Hierbei seien u. a. der verbundene finanzielle Aufwand zu berücksichtigen sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz des Arbeitgebers sowie die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder andere Unterstützungsmöglichkeiten.

Zudem setze die Möglichkeit, eine Person mit Behinderung an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, voraus, dass es zumindest eine hierfür geeignete freie Stelle gebe.

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