Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtswirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung der Sozialkassentarifverträge

 

Normenkette

TVG § 1 Tarifverträge: Bau

 

Verfahrensgang

Hessisches LAG (Urteil vom 10.11.1995; Aktenzeichen 15 Sa 217/95)

ArbG Wiesbaden (Urteil vom 30.11.1994; Aktenzeichen 6 Ca 4029/93)

 

Tenor

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 10. November 1995 – 15 Sa 217/95 – wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten der Revision.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte zur Beitragszahlung und Auskunftserteilung an die Klägerin verpflichtet ist.

Die Klägerin, die Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes VVaG (ZVK), ist als gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes nach näherer tariflicher Maßgabe die Einzugsstelle für die Beiträge zu den Sozialkassen des Baugewerbes.

Sie nimmt die Beklagte nach teilweiser Erledigung der Auskunftsverpflichtung noch auf Beitragszahlung für gewerbliche Arbeitnehmer für den Zeitraum von Februar 1991 bis Dezember 1993 (317.890,11 DM) und für Angestellte für den Zeitraum von Januar 1993 bis Oktober 1993 (2.091,60 DM) in Anspruch. Weiterhin begehrt sie hinsichtlich der Angestellten für den Zeitraum von Juli 1991 bis Dezember 1992 Auskunft sowie für den Fall der Nichterfüllung der Auskunftsverpflichtung die Zahlung einer Entschädigung (3.068,92 DM).

Die Beklagte verlegte im streitigen Zeitraum mit regelmäßig 12 Arbeitnehmern (Fliesenlegern) Fußböden, Treppenstufen und Fensterbänke aus Naturstein (Marmor und Granit) sowie Terrazzoplatten vornehmlich in Supermärkten, Wohnhänsern und Bürogebäuden. Diese Arbeiten sind im Klagezeitraum arbeitszeitlich gesehen zu mehr als 50 % angefallen. Die Beklagte ist nicht Mitglied einer der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes.

Nach dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) sind alle baugewerblichen Arbeitgeber zur Beitragszahlung (§§ 24 Abs. 1, 25 VTV) und zur Auskunftserteilung (§ 27 VTV) verpflichtet.

Zum betrieblichen Geltungsbereich enthält der VTV in der im Klagezeitraum (ab dem 1. Januar 1990) geltenden Fassung – soweit vorliegend von Interesse – folgende Regelungen:

㤠1 Geltungsbereich

(2) Betrieblicher Geltungsbereich:

Betriebe des Baugewerbes. Das sind alle Betriebe, die unter einen der nachfolgenden Abschnitte I bis IV fallen.

Abschnitt V

Zu den in den Abschnitten I bis III genannten Betrieben gehören z.B. diejenigen, in denen Arbeiten der nachstehend aufgeführten Art ausgeführt werden:

14. (ab dem 1. Juli 1) 92: 15.)

Fliesen-, Platten- und Mosaik-Ansetz- und Verlegearbeiten;

34. (ab dem 1. Juli 992: 35.) Terrazzoarbeiten

…”

Die ZVK hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen,

    1. ihr auf dem vorgeschriebenen Formular Auskunft darüber zu erteilen, wieviele Angestellte insgesamt mit Ausnahme derjenigen, die eine geringfügige Beschäftigung im Sinne von § 8 SGB IV ausübten, in den Monaten Juli 1991 bis Dezember 1992 in ihrem Betrieb beschäftigt wurden, welche Bruttogehaltssummen und in welcher Höhe Vorruhestandsbeiträge (bis Mai 1992) sowie Zusatzversorgungsbeiträge für die ZVK in den Monaten angefallen sind,
    2. für den Fall, daß diese Verpflichtung zur Auskunftserteilung innerhalb einer Frist von sechs Wochen nach Urteilszustellung nicht erfüllt wird, an sie folgende Entschädigung zu zahlen:

      3.068,82 DM

  1. an sie 319.981,71 DM zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie vertritt die Auffassung, die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV verletze sie in ihrer negativen Koalitionsfreiheit. Das Veröffentlichungsverfahren für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen sei verfassungswidrig.

Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht haben der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Die ZVK bittet um Zurückweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Der Betrieb der Beklagten wurde im Klagezeitraum vom betrieblichen Geltungsbereich des VTV erfaßt, so daß die Beklagte zur Beitragszahlung und zur Erteilung der von der ZVK begehrten Auskünfte verpflichtet ist. Die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV ist rechtswirksam.

1. Das Landesarbeitsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Betrieb der Beklagten falle unter den betrieblichen Geltungsbereich des VTV. Der Tarifvertrag sei wirksam für allgemeinverbindlich erklärt worden. Das Veröffentlichungsverfahren bei Allgemeinverbindlicherklärungen sei mit dem Rechtsstaatsgebot noch vereinbar.

Den Ausführungen des Landesarbeitsgerichts ist im Ergebnis zu folgen.

2. Der Betrieb der Beklagten wird vom betrieblichen Geltungsbereich des VTV erfaßt. Im Betrieb der Beklagten werden arbeitszeitlich überwiegend Fußböden, Treppenstufen und Fensterbänke aus Naturstein (Marmor und Granit) sowie Terrazzoplatten verlegt. Mit diesen Verlegearbeiten werden baugewerbliche Arbeiten ausgeführt, die als Tätigkeitsbeispiel in § 1 Abs. 2 Abschnitt V Nr. 14 (15) und Nr. 34 (35) VTV ausdrücklich aufgeführt sind. Der Betrieb der Beklagten gehört damit zu den Betrieben des Baugewerbes im Sinne von § 1 Abs. 2 Abschnitt V VTV.

3. Der VTV findet auf das Rechtsverhältnis der Parteien kraft Allgemeinverbindlicherklärung mit unmittelbarer und zwingender Wirkung Anwendung (§ 5 Abs. 4, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG).

a) Entgegen der Auffassung der Beklagten verstößt die Allgemeinverbindlicherklärung nicht gegen höherrangiges Recht.

Rechtsgrundlage für die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV ist § 5 TVG. Diese Vorschrift ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts verfassungskonform (vgl. ausführlich BAG Urteil vom 15. November 1995 – 10 AZR 150/95 – n.v.; das Urteil ist den Parteien des Rechtsstreits bekannt, die beklagte GmbH firmiert unter derselben Adresse wie die damals beklagte Einzelfirma „R. S.”, sie beschäftigt sich mit den gleichen baugewerblichen Arbeiten und wird von derselben Rechtsanwälten vertreten).

Durch die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen werden Außenseiter in ihrem Grundrecht auf negative Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) nicht verletzt (vgl. ausführlich Urteil vom 15. November 1995).

Auch in der Auferlegung von Beitragspflichten liegt weder ein Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG noch ein Verstoß gegen Art. 14 GG (vgl. ausführlich Urteil vom 15. November 1995).

b) An dieser Rechtsprechung hält der Senat auch unter Berücksichtigung der von der Beklagten geltend gemachten Bedenken fest.

Insbesondere der Hinweis der Beklagten auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur negativen Glaubensfreiheit (BVerfG Beschluß vom 16. Mai 1995 – 1 BvR 1087/91 – NJW 1995, 2477 – sogen. „Kruzifix-Urteil”) rechtfertigt keine andere verfassungsrechtliche Beurteilung der Heranziehung von Verbandsaußenseitern zur Arbeitgeberbeiträgen an die ZVK.

Art. 4 Abs. 1 GG schützt die Glaubensfreiheit. Die Entscheidung für oder gegen einen Glauben ist danach Sache des Einzelnen, nicht des Staates. Aus der Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG folgt der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen.

Im Gegensatz zur Neutralitätspflicht in Glaubensfragen ist den frei gebildeten Koalitionen durch Art. 9 Abs. 3 GG die im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe zugewiesen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in eigener Verantwortung und im wesentlichen ohne staatliche Einflußnahme zu gestalten. Soweit ein öffentliches Interesse daran besteht, daß im Geltungsbereich eines Tarifvertrags alle Arbeitsverhältnisse in ihren Mindestbedingungen inhaltlich gleich gestaltet sind, bewirkt die Allgemeinverbindlicherklärung, daß die von den Tarifparteien ausgehandelten Rechtsnormen auch für Nichtverbandsmitglieder verbindlich werden. Dadurch wird die Effektivität der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung gesichert. Die antragsabhängige Allgemeinverbindlicherklärung erweist sich in dieser Beziehung als ein Instrument, das die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens durch die Koalitionen abstützen soll, indem sie den Normen der Tarifverträge zu größerer Durchsetzungskraft verhilft. Daneben dient sie dem Ziel, den Außenseitern angemessene Arbeitsbedingungen zu sichern. Insoweit beruht die Allgemeinverbindlicherklärung auf der subsidiären Regelungszuständigkeit des Staates, die immer dann eintritt, wenn die Koalitionen die ihnen übertragene Aufgabe, das Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen, im Einzelfall nicht allein erfüllen können und die soziale Schutzbedürftigkeit einzelner Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen oder ein sonstiges öffentliches Interesse ein Eingreifen des Staates erforderlich macht (BVerfGE 44, 322, 342).

Insofern läßt sich die durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützte negative Glaubensfreiheit nicht mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG vergleichen.

c) Auch das Veröffentlichungsverfahren der Allgemeinverbindlicherklärung ist mit Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar (vgl. ausführlich Urteil vom 15. November 1995).

Für die Allgemeinverbindlicherklärung ist die öffentliche Bekanntmachung im Bundesanzeiger zwingend vorgeschrieben (§ 5 Abs. 7, § 11 Nr. 2 TVG in Verb. m. § 11 DurchführungsVO/TVG). Dies entspricht bis auf den fehlenden nachrichtlichen Hinweis im Bundesgesetzblatt dem für Rechtsverordnungen in Art. 82 Abs. 1 Satz 2 GG und § 1 des Gesetzes über die Verkündung von Rechtsverordnungen (BGBl 1950 S. 23) vorgesehenen Publikationsverfahren. Der Rechtsetzungsakt der Allgemeinverbindlicherklärung wird den Betroffenen hierdurch hinlänglich bekannt. Der Wortlaut der Tarifverträge kann durch Einsichtnahme in das beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung geführte Tarifregister (§ 6 TVG) jederzeit festgestellt werden. Die rechtsstaatlich gebotene Dokumentationswirkung des Veröffentlichungsverfahrens wird durch dieses Register gewährleistet. Insoweit ist der normunterworfene Außenseiter darauf verwiesen, Auskünfte aus dem Tarifregister einzuholen oder von einer der Tarifvertragsparteien eine Abschrift des Tarifvertrags gegen Erstattung der Selbstkosten zu erlangen. Der ungehinderte Zugang zu diesem öffentlichen Register ist wesentliche Voraussetzung für die Vereinbarkeit der eingeschränkten Publizität allgemeinverbindlicher Tarifverträge mit rechtsstaatlichen Anforderungen. Hierdurch wird gewährleistet, daß den Betroffenen der Inhalt der getroffenen Regelung jedenfalls ohne erhebliche Schwierigkeiten zugänglich ist.

Der Beklagten ist zwar zuzugeben, daß bei den meisten Betroffenen der Bundesanzeiger nicht als übliche Informationsquelle angesehen wird. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch sowohl die Bestimmung über die Bekanntmachung der Allgemeinverbindlicherklärung als auch das durch sie sichergestellte Maß an Publizität der allgemeinverbindlichen Tarifnormen zwar ebenfalls als nicht befriedigend bezeichnet, zugleich aber festgestellt, daß sie der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung unter dem Aspekt des Rechtsstaatsprinzips noch standhalten (BVerfG Beschluß vom 10. September 1991 – 1 BvR 561/89 – AP Nr. 27 zu § 5 TVG). Deshalb ist davon auszugehen, daß die Bekanntmachung im Bundesanzeiger, und zwar nicht bloß im Falle der Allgemeinverbindlicherklärung, den an die Publizität zu stellenden Anforderungen entspricht (ebenso: Herschel, Anm. zu BAG AP Nr. 18 zu § 5 TVG). Wesentlich ist, daß der Rechtssetzungsakt dem Betroffenen als solcher erkennbar und sein Inhalt zugänglich ist (ebenso: Ansey/Koberski, Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, ArbuR 1987, 230, 234).

d) Nach alledem ist die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV rechtswirksam, so daß die Beklagte kraft Tarifgebundenheit nach Maßgabe der tariflichen Bestimmungen zur Beitragszahlung und Auskunftserteilung verpflichtet ist. Die Höhe der Klageforderung ist zwischen den Parteien unstreitig.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Unterschriften

Hauck, Bock, Fischermeier, Weidner Schlaefke

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1087079

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