Rz. 4

Zentrales Merkmal des Ermessens ist die der Behörde durch den Gesetzgeber eingeräumte Entscheidungsfreiheit, bei Verwirklichung eines gesetzlichen Tatbestands zwischen zwei oder mehreren rechtlich zulässigen Rechtsfolgen auszuwählen.[1] Darin liegt der entscheidende Unterschied zu einer gebundenen Entscheidung, bei der die Behörde bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen die im Gesetz vorgeschriebene Rechtsfolge anordnen muss.

 

Rz. 5

Die typische Struktur einer Ermessensvorschrift besteht in der Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge, wobei das Ermessen ausschließlich die Rechtsfolgeseite ("Rechtsfolgeermessen") betrifft. Zum Sonderfall der sog. "Koppelungsvorschriften" vgl. Rz. 11f. Demgemäß besteht eine Ermessensentscheidung stets aus zwei Stufen:

Auf der ersten Stufe muss festgestellt werden, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Ermessensentscheidung gegeben sind. Sind nicht alle Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt, bewirkt dies eine Ermessenssperre[2]; eine gleichwohl ergehende Ermessensentscheidung ist rechtswidrig.[3] Die Tatbestandsseite (d. h. die tatbestandlichen Voraussetzungen, aufgrund derer die Behörde zur Ermessensausübung ermächtigt ist) ist stets Rechtsanwendung und als solche gerichtlich voll nachprüfbar; es gibt kein "Tatbestandsermessen", sondern nur ein Rechtsfolgeermessen.[4] Die Finanzbehörde hat demgemäß im jeweiligen Einzelfall die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermessensausübung zu ermitteln.

Erst auf der zweiten Stufe, d. h. bei der Bestimmung der Rechtsfolge, hat die Behörde auf der Grundlage des festgestellten Tatbestands eine Entscheidung zu treffen und hierbei das Ermessen auszuüben. Hierbei hat die Verwaltung die Wahlmöglichkeit zwischen mehreren Entscheidungsalternativen. Diese Ermessensentscheidung kann, z. B. bei gegebenem Entschließungs- und Auswahlermessen, zweistufig ausgestaltet sein.[5] Dieses Ermessen ist finanzgerichtlich nur in dem durch § 102 FGO vorgegebenen Rahmen zu überprüfen.

[2] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Rz. 30f., 37.
[4] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Rz. 5, 7.
[5] Vgl. Rz. 17ff.

2.1 Verfassungsmäßigkeit der Ermessensermächtigung

 

Rz. 6

§ 5 AO regelt nur die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Ermessensausübung. Die Einräumung von Ermessensspielräumen für das Verwaltungshandeln durch den Gesetzgeber ist rechtsstaatlich grundsätzlich unbedenklich.[1] Eine Grenze ergibt sich allerdings aus der Gewaltenteilung, dem Bestimmtheitsprinzip sowie den verfassungsrechtlichen Besteuerungsgrundsätzen, insbesondere dem Gebot der Gesetzmäßigkeit (Tatbestandsmäßigkeit) der Besteuerung.[2] Rechtsstaatswidrig sind gesetzliche Ermächtigungen zu Ermessensentscheidungen, die die Verwaltung zum Erlass belastender Verwaltungsakte ohne Einschränkung nach Inhalt, Zweck und Ausmaß berechtigen und daher für den Bürger nicht mehr vorhersehbar oder berechenbar sind.[3] Ermessensvorschriften finden sich hauptsächlich in verfahrensrechtlichen Vorschriften. Im materiellen Steuerrecht sind Ermessensermächtigungen hingegen grundsätzlich ausgeschlossen[4], weil der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit (Tatbestandsmäßigkeit) der Besteuerung keine Ermessensspielräume zulässt.[5]

[1] Dazu Wernsmann, in HHSp, AO/FGO, § 5 AO Rz. 31ff.
[2] Wernsmann, in HHSp, AO/FGO, § 5 AO Rz. 32 und 35ff.
[3] Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9 Aufl. 2018, § 40 Rz. 17 m. w. N.
[4] Zum Grenzfall des § 12 GrEStG vgl. Pahlke, GrEStG, 7. Aufl. 2023, § 12 Rz. 3 ff.
[5] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Rz. 7; Wernsmann, in HHSp, AO/FGO, § 5 AO Rz. 41.

2.2 Abgrenzung zum unbestimmten Rechtsbegriff

 

Rz. 7

Das Ermessen ist von den unbestimmten Rechtsbegriffen zu unterscheiden. Während der Verwaltung durch eine Ermessensermächtigung auf der Rechtsfolgeseite die Auswahlmöglichkeit zwischen mehreren gleichwertigen – jeweils rechtlich einwandfreien – Entscheidungen eingeräumt ist, ist die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe grundsätzlich Sache der Gerichte. Der unbestimmte Rechtsbegriff betrifft allein die Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale. Unbestimmte Rechtsbegriffe sind solche, die wegen der in ihnen liegenden Generalisierung für den einzelnen Anwendungsfall keine eindeutige und endgültige Aussage ergeben und daher eine gewisse Bandbreite von Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen. Derartige Begriffe bedürfen im Rahmen ihrer Auslegung einer Abwägung und Wertung mit dem Ziel, die für den zu entscheidenden Fall allein "richtige" Entscheidung zu treffen.[1] Die Verwaltung hat jedoch insoweit kein "Tatbestandsermessen" (vgl. Rz. 5), sondern trifft hier eine wegen der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich unbeschränkt gerichtlich überprüfbare Entscheidung. Im Übrigen bestehen gegen die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe keine verfassungsrechtlichen Bedenken, sofern den Anforderungen des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatzes sowie dem Gebot der Normenklarheit und Justiziabili...

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