Rz. 11

In manchen Vorschriften sind unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessenstatbestand als sog. Koppelungsvorschriften materiell so eng verzahnt, dass sich die Frage einer einheitlichen Behandlung beider Teile stellt. Dies betrifft nicht die typischen Ermessensermächtigungen, bei denen auf der ersten Stufe der Ermessensentscheidung (vgl. Rz. 5) zunächst die hierfür erforderlichen tatbestandlichen Voraussetzungen zu prüfen und dabei ein unbestimmter Rechtsbegriff auszulegen und danach auf der zweiten Stufe die eigentliche Ermessensentscheidung zu treffen ist. In diesen Fällen sind unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen nach den für sie jeweils gültigen Regeln auszulegen und anzuwenden.

 

Rz. 12

Dagegen ist z. B. beim Billigkeitserlass nach § 227 AO und entsprechend auch bei der abweichenden Festsetzung von Steuern aus Billigkeitsgründen gem. § 163 AO nach der Rspr. des Gemeinsamen Senats der obersten Bundesgerichte eine unauflösbare Verbindung des unbestimmten Rechtsbegriffs "unbillig" mit der bezüglich der Billigkeitsentscheidung eingeräumten Ermessensermächtigung ("Können").[1] Bei einer solchen Verknüpfung liege eine einheitliche Ermessensvorschrift vor und dürfe die Ermessensentscheidung nicht der vollen gerichtlichen Nachprüfung unterworfen werden. Die Komponente der Unbilligkeit rage in den Ermessensbereich hinein und bestimme den Inhalt und die Grenzen der Ermessensausübung. Die damit für §§ 163 und 227 AO kreierte Vorstellung einer einheitlichen Ermessensvorschrift ist zwar rechtsdogmatisch kaum haltbar[2], jedoch verfassungsrechtlich deshalb hinnehmbar, weil diese Vorschriften allein den Verzicht auf einen Eingriff – und nicht die Ermächtigung für einen Eingriff – betreffen.[3]

[1] Vgl. GmS-OGB v. 19.10.1971, GmS-OGB 3/70, BStBl II 1972, 603 zur Vorgängervorschrift § 131 RAO; s. jetzt z. B. BFH v. 22.10. 2014, II R 4/14, BStBl II 2015, 237.
[2] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Rz. 27 m. w. N.
[3] Koenig/Koenig, AO, 4. Aufl. 2021, § 5 Rz. 19.

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