Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a bei alltäglichen Tätigkeiten

 

Leitsatz (amtlich)

Wer wegen Depression stationär behandelt wird (§ 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO) ist auf dem Weg zum Einkauf von Zeitungen oder Zigaretten außerhalb der Krankenanstalt gegen Unfall nicht gesetzlich versichert.

 

Orientierungssatz

1. Eine Tätigkeit steht im ursächlichen Zusammenhang mit der stationären Behandlung iS des § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO, wenn sie dieser Behandlung dienlich ist. Dazu reicht es aus, daß der Versicherte von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, die Tätigkeit sei geeignet, seiner stationären Behandlung zu dienen, und daß diese subjektive Meinung in den objektiv gegebenen Verhältnissen eine ausreichende Stütze findet (vgl BSG 1972-02-17 7/2 RU 27/69 = SozR Nr 30 zu § 548 RVO).

2. Normales Verhalten, wie Essen, Trinken und Schlafen, dient dem Gesunden zur Erhaltung und grundsätzlich auch dem Kranken zur Wiedererlangung der Gesundheit. Allein hierdurch werden sie bei einer stationären Behandlung jedoch nicht zu Risiken, denen der Versicherte wegen der besonderen Umstände der Unterbringung in einem Kurheim ausgesetzt ist (vgl BSG 1981-05-12 2 RU 89/79 = USK 81102).

3. Alltägliche, an sich eigenwirtschaftliche Tätigkeiten, zu denen auch das Einkaufen von Zigaretten und Zeitungen gehört, folgen vornehmlich privaten Interessen des Versicherten ebenso, wie etwa der Besuch kultureller oder geselliger Veranstaltungen oder Ausflüge in die Umgebung; sie werden von dem Unfallversicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO nicht erfaßt (vgl BSG 1978-10-31 2 RU 50/78 = USK 78131).

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 17 Buchst. a Fassung: 1974-08-07

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 18.02.1981; Aktenzeichen L 3 U 73/80)

SG Speyer (Entscheidung vom 17.04.1980; Aktenzeichen S 2 U 96/79)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger bei dem Einkauf von Zeitschriften und Zigaretten während eines Krankenhausaufenthaltes gegen Unfall versichert war.

Auf Kosten der Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz sollte der Kläger, der schon wiederholt wegen endogener Depressionen behandelt worden war, vom 11. Dezember 1975 bis voraussichtlich 2. Juni 1976 in der R für psychosomatische Medizin, L 3, in B H, stationär behandelt werden. Die Ehefrau des Klägers besuchte ihn am 28. Februar 1976 für mehrere Tage. Sie wohnte dabei in der A in der Pension P. Am Montag, dem 1. März 1976 gegen 6.45 Uhr, wollte der Kläger seine Frau zu einem Spaziergang abholen. Statt auf der rechten Seite bis ans Ende der zu gehen und nach rechts in die B und dann wieder nach rechts in die A abzubiegen, überquerte der Kläger die P und ging auf ihr von der Ecke L mindestens 150 m nach links bis zu einem Geschäft, bei dem er für seine Frau Zigaretten und für sich Tageszeitungen kaufte. Anschließend eilte er einige Treppenstufen hinunter, knickte dabei auf dem rechten Fuß um und zog sich einen Verrenkungsbruch des oberen Sprunggelenks mit Querfraktur des Innenknöchels zu.

Der Leitende Arzt Dr. H von der psychoanalytischen Abteilung der R in B H bescheinigte dem Kläger, es sei psychotherapeutisch sinnvoll, wenn der Patient Kontakt mit dem Ehepartner habe, damit er mit ihm das in der analytischen Psychotherapie Erarbeitete diskutieren und gemeinsam verarbeiten könne. In einer weiteren Bescheinigung hat Dr. H ausgeführt, daß seine Patienten während der stationären Psychotherapie Kontakt zu Mitpatienten und Familienangehörigen pflegen sowie normale "bürgerliche Erledigungen" durchführen sollen, weil dies für die Behandlungsziele erforderlich sei.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 17. April 1980). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 18. Februar 1981). Es hat dazu ausgeführt: Der Unfall des Klägers hänge nicht mit einer gesetzlich versicherten Tätigkeit - oder Wegegefahr - zusammen (§§ 548, 555 Reichsversicherungsordnung -RVO-). Die Ausdehnung des gesetzlichen Unfallversicherungsschutzes könne nicht soweit gehen, daß nur noch eine lose Beziehung zwischen einem Unfall und dem Versicherungstatbestand übrig bleibe. Was für private Nebenverrichtungen innerhalb einer Arbeitstätigkeit gelte, müsse auch für Nebenverrichtungen innerhalb einer stationären Behandlung gelten. Der Wunsch nach sozialen Kontakt könne allein keine Begründung für den äußeren oder inneren Zusammenhang zwischen dem Abweg und der stationären Behandlung sein; ansonsten wäre überhaupt keine sinnvolle Unterscheidung zwischen privaten und therapeutischen Beweggründen mehr möglich. Auch zu Hause hätte der Kläger Zigaretten holen müssen und hätte ebenso eine Tageszeitung für sich kaufen können.

Der Kläger und die beigeladene Betriebskrankenkasse haben gesondert Revision eingelegt. Der Kläger ist sei August 1976 bei der Beigeladenen familienversichert. Der Kläger und die Beigeladene sind der Meinung, für die Therapie sei es von elementarer Bedeutung, daß der Patient sich nicht seiner Krankheit hingebe, sondern die Therapeuten eigenständig bei der Behandlung unterstütze und selbst versuche, die Krankheit zu bekämpfen. Dabei sei es gerade bei psychischen Erkrankungen wichtig und notwendig, daß der Patient von den Sorgen und Problemen um die eigene Gesundheit und die eigene Person abgelenkt werde und sich mit anderen, von seinen eigenen Problemen ablenkenden Dingen beschäftige. Deshalb sei die Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften unmittelbarer Teil der Therapie und für deren Erfolg notwendig. Er habe deshalb den Kauf von Zeitschriften als therapienotwendig ansehen dürfen.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu

verurteilen, den Verrenkungsbruch mit seinen Folgen als Arbeitsunfall

anzuerkennen und aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu

entschädigen.

Darüberhinaus beantragt er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsfrist.

Die Beigeladene beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben, die Beklagte zu verurteilen, das

Ereignis vom 1. März 1976 als Arbeitsunfall anzuerkennen und ihr die

Kosten gemäß § 1504 Abs 1 RVO zu ersetzen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zu verwerfen, hilfsweise, zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Gerichts ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegten Revisionen sind an sich zulässig; auch die der Beigeladenen, obwohl sie keine Berufung eingelegt hatte. Der Revisionsantrag der Beigeladenen ist insoweit jedoch unzulässig, als Erstattung von Kosten nach § 1504 Abs 1 RVO begehrt wird. Hierbei handelt es sich um eine Klageänderung (§ 99 SGG), die im Revisionsverfahren unzulässig ist (§ 168 SGG).

Die Revisionen sind unbegründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, daß der Kläger keinen gemäß § 539 Abs 1 Nr 17 Buchstabe a, § 548 Abs 1 Satz 1 RVO zu entschädigenden Arbeitsunfall erlitten hat.

Der Kläger gehörte zwar im Zeitpunkt des Unfalles zu den in § 539 Abs 1 Ziffer 17 Buchstabe a RVO genannten Personen, da ihm von einem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, der Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz, eine stationäre Behandlung iS des § 559 RVO gewährt wurde. Nach dieser gesetzlichen Vorschrift ist eine Heilbehandlung mit Unterkunft und Verpflegung in einem Krankenhaus oder einer Kur- oder Spezialeinrichtung eine stationäre Behandlung. Ob es sich bei der dem Kläger gewährten Klinikbehandlung um eine spezifisch der Rehabilitation zuzurechnende medizinische Leistung (§ 1237 RVO) handelte, wie sie im allgemeinen von den Trägern der Rentenversicherung geleistet werden (§ 1236 Abs 1 Satz 1 RVO), kann dahinstehen.

Unabhängig davon, ob der Kläger nur als Rehabilitand zum versicherten Personenkreis gehören würde, ist der Unfall vom 1. März 1976 nicht zu entschädigen, weil er kein Arbeitsunfall ist. Arbeitsunfall ist ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO aufgeführten Tätigkeit erleidet (§ 548 Abs 1 Satz 1 RVO). Voraussetzung ist demnach, daß der Unfall von einer solchen Tätigkeit hervorgerufen worden ist. Hier ist also eine innere Beziehung zwischen dem Unfall und der stationären Behandlung zu fordern. Maßgebend sind auch hier die besonderen Verhältnisse des Einzelfalles. Ein nur zeitlicher oder örtlicher Zusammenhang zwischen der stationären Behandlung und dem Unfall genügt nicht, vielmehr wird ein "innerer ursächlicher Zusammenhang" vorausgesetzt (BSG SozR 2200 § 539 Nr 72). Eine Tätigkeit steht im ursächlichen Zusammenhang mit der stationären Behandlung iS des § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO, wenn sie dieser Behandlung dienlich ist. Dazu reicht es aus, daß der Versicherte von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, die Tätigkeit sei geeignet, seiner stationären Behandlung zu dienen, und daß diese subjektive Meinung in den objektiv gegebenen Verhältnissen eine ausreichende Stütze findet (vgl dazu BSGE 20, 215, 218 = SozR Nr 67 zu § 542 RVO aF; BSGE 30, 282, 283 = SozR Nr 19 zu § 548 RVO; SozR Nr 23 und 30 zu § 548 RVO).

Diese Merkmale sind, wie das LSG zutreffend erkannt hat, hier nicht gegeben. Der von dem LSG festgestellte Sachverhalt, an den das Bundessozialgericht (BSG) mangels zulässiger und begründeter Revisionsgründe gebunden ist (§ 163 SGG), zwingt nicht zur Entscheidung der Frage, ob ein Unfall des Klägers als Arbeitsunfall anzusehen gewesen wäre, wenn er ihn auf dem Weg von der R zu der Pension, in der seine Ehefrau wohnte, erlitten hätte, und dieser Weg der Aufnahme eines Spazierganges oder eines Therapiegespräches gedient hätte. Der Kläger ist von diesem Weg abgewichen, als er die Richtung auf der B nach links einschlug. Der Unfallort liegt auf diesem Abweg. Der Versicherungsschutz könnte deshalb nur vorliegen, wenn der Einkauf von Zigaretten und Zeitungen selbst ein wesentliches Moment der stationären Behandlung gewesen wäre. Das LSG ist in dem angefochtenen Urteil zutreffend davon ausgegangen, daß nicht allein ein gewünschter sozialer Kontakt bei einer psychosomatischen Behandlung schon ausreichend für den Versicherungsschutz sein kann (vgl Abdruck des Urteils in Breithaupt 1981, S 778 bis 780). Zwar wird ein möglichst normales alltägliches Verhalten des Patienten während seines Aufenthalts in der Kurklinik für die Behandlungsziele förderlich sein. Deshalb ist ein Tun aber allein noch nicht ausreichend, um den notwendigen "wesentlichen inneren Zusammenhang" herzustellen. Normales Verhalten, wie Essen, Trinken und Schlafen, dient dem Gesunden zur Erhaltung und grundsätzlich auch dem Kranken Wiedererlangung der Gesundheit. Allein hierdurch werden sie bei einer stationären Behandlung jedoch nicht zu Risiken, denen der Versicherte wegen der besonderen Umstände der Unterbringung in einem Kurheim ausgesetzt ist (vgl BSGE 46, 283 = SozR 2200 § 539 Nr 47, BSG vom 12.5.1981 - 2 RU 89/68 = USK 81102). Alltägliche, an sich eigenwirtschaftliche Tätigkeiten, zu denen auch das Einkaufen von Zigaretten und Zeitungen gehört, folgen vornehmlich privaten Interessen des Versicherten ebenso, wie etwa der Besuch kultureller oder geselliger Veranstaltungen oder Ausflüge in die Umgebung; sie werden von dem Unfallversicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchstabe a RVO nicht erfaßt (BSG vom 31.10.1978 - 2 RU 50/78 = USK 78131). Selbst wenn angenommen wird, daß der Kläger der Meinung war, der Kauf von Zigaretten und Zeitungen diente der stationären Behandlung, so findet diese subjektive Meinung in den objektiv gegebenen Verhältnissen keine ausreichende Grundlage. Denn dieser Einfluß auf die Behandlung ist nur von untergeordneter Bedeutung, weil der private Wunsch an einem Rauchgenuß und das Verlangen nach dem Zeitunglesen so stark im Vordergrund standen, daß sie als die allein wesentliche Ursache des Unfalls zu werten sind. Es fehlt somit der rechtlich wesentliche innere Zusammenhang zwischen der stationären Behandlung und dem Unfallereignis (vgl dazu die Entscheidung des BSG vom 12.7.1979 - 2 RU 27/79 = USK 79245, in der ein Patient beim Schreiben eines Briefes während der stationären Behandlung nicht als versichert angesehen worden ist).

Die Revision des Klägers und der Beigeladenen sind daher zurückzuweisen.

Dem Kläger war Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsfrist zu gewähren, weil er erst nach Bewilligung der Prozeßkostenhilfe in die Lage versetzt worden ist, die Revision einzulegen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662124

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Steuer Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge