Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz bei stationärer Behandlung. Sturz aus dem Fenster bei stationärer Behandlung

 

Orientierungssatz

1. Nicht jeder Mißerfolg einer stationären Behandlung kann deshalb zur Leistungspflicht des Unfallversicherungsträgers führen, weil die Merkmale eines Unfalles gegeben sind. Gleiches gilt auch für unvorhersehbare sonstige Nebenfolgen einer medizinischen Therapie, welche mit der Entwicklung und dem Verlauf der die stationäre Behandlung bedingenden Erkrankung zusammenhängen (vgl BSG 1979-02-01 2 RU 85/78 = SozR 2200 § 539 Nr 56). Wesentliche Ursache eines bei der stationären Behandlung eingetretenen Unfalls müssen, um den Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a zu begründen, die Risiken sein, denen der Versicherte wegen der besonderen Umstände der Unterbringung in einem Kurheim ausgesetzt ist (vgl BSG 1978-06-27 2 RU 20/78 = BSGE 46, 283).

2. Stürzt der Versicherte infolge Einnahme verordneter sedierender Arzneimittel, welche den für den Therapieerfolg notwendigen Schlaf herbeiführen sollen, aus dem Fenster, ohne daß der Sturz etwa durch bauliche oder sonstige Besonderheiten der Klinik bedingt ist, besteht kein Unfallversicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a Fassung: 1974-08-07

 

Verfahrensgang

SG Dortmund (Entscheidung vom 14.08.1979; Aktenzeichen S 17 U 54/78)

 

Tatbestand

Unter den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger am 10. Juli 1976 während der Heilbehandlung in der Psychosomatischen Klinik S W einen Arbeitsunfall erlitt, als er aus dem Fenster seines Zimmers stürzte.

Das Heilverfahren wurde von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Westfalen vom 9. Juni 1976 an wegen depressiver Verstimmungen und Kreislaufstörungen durchgeführt. Der Kläger erhielt neben anderen Medikamenten auch Schlafmittel. Am späten Abend des Unfalltages ließ er sich, da er nicht einschlafen konnte, weitere Mittel verabreichen. Die Dosierung bedeutete eine mittelschwere bis schwere Sedierung für die Nacht. Der Kläger schlief auf einem vor dem geöffneten Fenster seines im 1. Stockwerk gelegenen Zimmers stehenden Tisch in unbequemer Haltung ein. Gegen 22.30 Uhr fiel er aus dem Fenster und zog sich Verletzungen an der Lendenwirbelsäule zu.

Mit Schreiben vom 31. Januar 1977 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) mit der Begründung ab, der Kläger sei einer selbstgeschaffenen Gefahr erlegen, so daß kein Versicherungsschutz bestanden habe. Aus demselben Grunde und weil er einer eigenwirtschaftlich unversicherten Betätigung nachgegangen sei, wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 1978).

Das Sozialgericht (SG) hat ua eine Auskunft der Kurklinik und ein Aktengutachten von dem Nervenarzt Dr. I eingeholt. Durch das angefochtene Urteil vom 14. August 1979 hat es der Klage stattgegeben. In den Urteilsgründen heißt es ua, regelmäßiger Schlaf sei Voraussetzung für eine Besserung des Gesundheitszustandes des Klägers gewesen. Die Einnahme von Schlafmitteln sei daher Teil der Rehabilitationsmaßnahmen gewesen. Infolge der dadurch eingetretenen Sedierung sei es zum Sturz aus dem Fenster gekommen. Der Unfall habe sich daher bei einer mit der Rehabilitation zusammenhängenden Maßnahme ereignet. Einer selbstgeschaffenen Gefahr sei der Kläger nicht erlegen; er habe bei Berücksichtigung seiner Schlafstörung und Atemnot höchstens grob fahrlässig gehandelt. Die Rehabilitation sei wesentliche Bedingung für den Unfall gewesen.

Mit der zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend, daß am Beginn der Ursachenkette eine ärztliche Behandlungsmaßnahme, nämlich die Verordnung und Verabreichung von Medikamenten, stehe. Diese Maßnahme werde von dem in § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a der Reichsversicherungsordnung (RVO) gegebenen Versicherungsschutz nicht umfaßt. Zu dem Unfall habe die für den Kläger ungewohnte Umgebung nicht wesentlich beigetragen. Dagegen habe eine selbstgeschaffene Gefahr, und damit ein Ausschluß des Versicherungsschutzes vorgelegen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben

und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung

an das Sozialgericht zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Einnahme von Schlaftabletten sei zutreffend als Teil der Rehabilitation angesehen worden. Wesentliche Ursache für den Unfall seien die Art der Behandlung und der Unterbringung in der Klinik gewesen.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Bei dem Unfall des Klägers am 10. Juli 1976 handelte es sich nicht um einen Arbeitsunfall gemäß § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a, § 548 Abs 1 Satz 1 RVO.

Der Kläger gehörte im Zeitpunkt des Unfalls zu den nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO versicherten Personen, da ihm die LVA Westfalen als Trägerin der gesetzlichen Rentenversicherung stationäre Behandlung in einer Kureinrichtung gewährte. Versicherungsschutz "gegen Arbeitsunfall" nach dieser Vorschrift setzt voraus, daß zwischen dem Unfall und der Tätigkeit ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Das SG hat deshalb zutreffend zum Ausdruck gebracht, daß ein Versicherungsschutz des Klägers nach § 548 RVO somit nicht schlechthin während der gesamten Dauer der stationären Behandlung bestanden hat. Ein nur zeitlicher und örtlicher Zusammenhang genügt nicht. Vielmehr muß ein innerer Ursachenzusammenhang zwischen der Heilbehandlung und dem Unfall gegeben sein. Ob dies der Fall ist, entscheidet sich auch für die nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO versicherten Personen nach der in der gesetzlichen UV maßgebenden Kausalitätslehre von der wesentlichen Bedingung (vgl BSG SozR 2200 § 539 Nr 48; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 9. Aufl, S 475 g). Das Risiko der ärztlichen Behandlung selbst ist nicht Gegenstand des Versicherungsschutzes. Der Senat hat dies in seinem Urteil vom 27. Juni 1978 (BSGE 46, 283) im einzelnen begründet (vgl auch BSG SozR 2200 § 539 Nr 56; Urteile vom 31. Oktober 1978 - 2 RU 50/78 und 2 RU 70/78 -; Brackmann, aaO S 475 g ff mwN) und dargelegt, daß nicht jeder Mißerfolg einer stationären Behandlung deshalb zur Leistungspflicht des UV-Trägers führen kann, weil die Merkmale eines Unfalles gegeben sind. Gleiches gilt auch für unvorhersehbare sonstige Nebenfolgen einer medizinischen Therapie, welche mit der Entwicklung und dem Verlauf der die stationäre Behandlung bedingenden Erkrankung zusammenhängen (BSG SozR 2200 § 539 Nr 56). Wesentliche Ursache eines bei der stationären Behandlung eingetretenen Unfalls müssen, um den Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift zu begründen, die Risiken sein, denen der Versicherte wegen der besonderen Umstände der Unterbringung in einem Kurheim ausgesetzt ist (BSGE 46, 283, 285).

Nach den bindenden Feststellungen des SG war Ursache des Sturzes aus dem Fenster die Einnahme verordneter sedierender Arzneimittel, welche den für den Therapieerfolg notwendigen Schlaf herbeiführen sollten. Demzufolge kam es infolge der ärztlicherseits als notwendig erachteten Behandlung zu dem Unfall. Den tatsächlichen Feststellungen des SG ist jedoch nicht zu entnehmen, daß Umstände, welche mit der Unterbringung und dem Verweilen in der Klinik zusammenhängen, den Unfall wesentlich mitbedingten. Die Tatsache, daß der Kläger durch ein geöffnetes Fenster stürzte, war nicht etwa durch bauliche oder sonstige Besonderheiten der Klinik bedingt, sondern erklärt sich nach den Feststellungen des SG allein durch das Bedürfnis des Klägers, vorhandenen Schlafstörungen und Atemnot zu begegnen. Demgemäß ereignete sich der Unfall als Folge der Erkrankung und deren Behandlung in der psychosomatischen Klinik. Sein Unfall am 10. Juli 1976 stand somit - unabhängig von der Art seiner Erkrankung und der Behandlung - nicht in einem inneren Zusammenhang mit dem Aufenthalt in der Klinik; ein Arbeitsunfall ist nicht gegeben.

Der Bescheid der Beklagten ist nicht zu beanstanden. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660730

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