Tz. 2

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Das FG hat nach § 76 FGO ein selbständiges Ermittlungsrecht und eine selbständige Ermittlungspflicht, und zwar unabhängig davon, ob und welche Ermittlungen die Finanzbehörde bereits angestellt hat. Das FG ist daher z. B. an die Feststellungen eines Strafgerichts nicht gebunden (BFH v. 07.07.1995, III B 8/95, BFH/NV 1996, 150; BFH v. 12.04.1994, I B 75, 77, 79/93, BFH/NV 1995, 40; auch BFH v. 09.12.2004, VII B 17/04, BFH/NV 2005, 935; aber s. Rz. 5). Der gerichtlichen Ermittlungspflicht entspricht diejenige der Finanzbehörden im Verwaltungsverfahren aufgrund § 88 AO; wegen der Einzelheiten s. § 88 AO Rz. 3 ff. Das FG hat das Verfahren zur Entscheidungsreife zu führen (BFH v. 29.03.1995, II R 13/94, BStBl II 1995, 542) und muss dazu den entscheidungserheblichen Sachverhalt so vollständig wie möglich und unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel aufklären (z. B. BFH v. 15.12.1999, X R 151/97, BFH/NV 2000, 1097; BFH v. 05.01.2000, II B 16/99, BFH/NV 2000, 1098; sehr ausführlich Krumm in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 20 ff.). § 76 FGO steht daher im engen Zusammenhang mit §§ 81ff. FGO über die Beweiserhebung. Die Entscheidung aufgrund eines bloß fiktiven Sachverhalts ist daher ausgeschlossen (Krumm in Tipke/Kruse, § 76 FGO, Rz. 18). Verletzt das Gericht seine Aufklärungspflicht, liegt ein Verfahrensverstoß i. S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vor. Zu den Darlegungserfordernissen einer Sachaufklärungsrüge z. B. BFH v. 29.01.2014, III B 106/13, BFH/NV 2014, 705; BFH v. 18.03.2014, V B 24/13, BFH/NV 2014, 1101; BFH v. 03.05.2014, III B 25/13, BFH/NV 2014, 1235. Zu beachten ist, dass § 79b FGO es dem Vorsitzenden bzw. dem Berichterstatter ermöglicht, die Beteiligten unter Setzung einer Frist zum Sachvortrag, zur Benennung von Beweismitteln sowie zur Vorlage von bestimmten Beweismitteln anzuhalten, wobei die Nichteinhaltung der Frist zur Begrenzung der Ermittlungspflicht des Gerichts unter Ausschluss nachträglicher Erklärungen und Beweismittel führen kann. Im Einzelnen s. § 79b FGO Rz. 10. Erstreckt sich die Amtsermittlungspflicht in allererster Linie auf den entscheidungserheblichen Sachverhalt, so hat das FG als Tatsacheninstanz auch die Aufgabe, eventuell maßgebendes ausländisches Recht gem. § 155 Satz 1 FGO i. V. m. § 293 ZPO von Amts wegen zu ermitteln. Wie das FG das ausländische Recht ermittelt, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen (BFH v. 19.01.2017, IV R 50/14, BStBl II 2017, 456).

 

Tz. 3

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Das FG muss nur die zumutbaren Aufklärungsmaßnahmen ergreifen. Die Verpflichtung des FG zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen bedeutet nicht, dass jeder fernliegenden Erwägung nachzugehen ist. Allerdings muss das FG die sich im Einzelfall aufdrängenden Überlegungen auch ohne ausdrücklichen Hinweis der Beteiligten anstellen und entsprechende Beweise erheben (z. B. BFH v. 11.01.2017, X B 104/16, BFH/NV 2017, 561; BFH v. 21.07.2017, X B 167/16, BFH/NV 2017, 1447). Generell ist das FG nicht verpflichtet, im Rahmen des Klagebegehrens alle Besteuerungsgrundlagen daraufhin zu prüfen, ob sie geeignet sind, der Klage ganz oder zum Teil zum Erfolg zu verhelfen, insbes. jedem denkbaren Gesichtspunkt nachzugehen, wenn Beteiligtenvortrag und Akteninhalt oder sonstige Umstände keinen Anhalt dafür geben (vgl. aber BFH v. 11.11.2010, X B 159/09, BFH/NV 2011, 610). Das gilt um so mehr, wenn der Kläger ausdrücklich erklärt hat, einen Punkt, der Gegenstand des Einspruchsverfahrens gewesen ist, im Verfahren vor dem FG nicht mehr aufgreifen zu wollen. Ein derartiges Verhalten des Klägers kann auch im Revisionsverfahren nicht mehr über die Rüge der mangelnden Sachaufklärung durch das FG rückgängig gemacht werden (BFH v. 30.01.1980, I R 194/77, BStBl II 1980, 449). Zum Umfang der gerichtlichen Aufklärungspflicht vgl. folgende Beispiele aus der Rspr.: Das FG darf keine eigene Vertragsauslegung vornehmen, sondern muss den wirklichen Willen der Vertragsparteien erforschen, wenn sich dieser durch eine Beweiserhebung feststellen lässt (BFH v. 21.12.1966, II 149/63, BStBl III 1967, 189). Das FG muss alle entscheidungserheblichen Akten beiziehen (z. B. BFH v. 04.12.2013, X B 120/13, BFH/NV 2014, 546; BFH v. 21.06.2016, III B 29/16, BFH/NV 2016, 1483), es braucht aber nicht ohne bestimmten Anlass (Beteiligtenvortrag, Akteninhalt oder sonstige Umstände) allen Posten der Steuererklärung und ihrer Anlagen nachzugehen (BFH v. 16.12.1970, I R 137/68, BStBl II 1971, 200). Es kann in aller Regel unterstellen, dass die Beteiligten, d. h. das FA und der Stpfl., auf die Wahrung ihrer Interessen bedacht sind, sodass im Allgemeinen besondere Nachforschungen zugunsten eines Beteiligten sich erübrigen, wenn nicht den Verhältnissen nach ein besonderer Anlass dazu besteht (BFH v. 10.05.1968, VI R 7/66, BStBl II 1968, 589; BFH v. 09.12.1969, I B 50/69, BStBl II 1970, 96). Wird der Vortrag eines Beteiligten über tatsächliche Gegebenheiten vom Gegner nicht bestritten, kann das Gericht nach Lage ...

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