Leitsatz

Beträgt die positive oder die negative Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, vermindert um die darauf entfallenden Beträge nach § 13 Abs. 3 und § 24a EStG, jeweils mehr als 800 DM (410 €), ist eine Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG von Amts wegen durchzuführen.

 

Normenkette

§ 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG

 

Sachverhalt

Die Kläger sind Eheleute. Sie reichten ihre ESt-Erklärungen für die Streitjahre 1996 und 1997 am 20.3.2000 beim FA ein. Neben Einkünften des Klägers aus nichtselbstständiger Arbeit erklärten sie Verluste des Klägers aus LuF i.H.v. 21.506 DM für 1996 und 28.593 DM für 1997 sowie Kapitalerträge i.H.v. 1.985 DM für 1996 und 10.238 DM für 1997. Die Einkünfte aus LuF wurden gesondert festgestellt. Für 1996 erklärten die Kläger außerdem Einkünfte aus Spekulationsgeschäften i.H.v. 487 DM (Kläger) und 701 DM (Klägerin). Später gaben sie noch sonstige Einkünfte des Klägers nach § 22 Nr. 3 EStG aus der Vermietung eines Pkw an, die sie für 1996 auf 1.842 DM und für 1997 auf 964 DM bezifferten.

Das FA lehnte die Durchführung der ESt-Veranlagungen ab. Die Klage hatte keinen Erfolg.

 

Entscheidung

Der BFH hob die Vorentscheidung auf und gab der Klage statt. Die Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, könne – wie in den Praxis-Hinweisen ausgeführt – auch negativ sein.

Eine Aussetzung des Verfahrens gem. § 74 FGO komme nicht in Betracht. Denn die Entscheidung des – einfach-rechtlich gelösten – Rechtsstreits hänge nicht von der Entscheidung des BVerfG in den Normenkontrollverfahren 2 BvL 55/06 und 2 BvL 56/06 zur Verfassungsmäßigkeit der Ausschlussfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG ab (siehe hierzu die Vorlagebeschlüsse, beide vom 22.5.2006, VI R 46/05, BFH-PR 2006, 476, und VI R 49/04, BFH-PR 2006, 477).

 

Hinweis

1. Sicherlich eine überraschende Entscheidung; wurde doch bisher (überwiegend) die Auffassung vertreten, § 46 Abs. 2 Nrn. 1 bis 7 EStG diene überwiegend dem Zweck, zu gering erhobene LSt (bzw. ESt) nachzufordern. Die Besprechungsentscheidung ist im Zusammenhang mit den Vorlagebeschlüssen des VI. Senats, beide vom 22.5.2006, VI R 46/05, BFH-PR 2006, 476, und VI R 49/04, BFH-PR 2006, 477 zu sehen.

2. Bevor ein Verfahren dem BVerfG zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit bzw. -widrigkeit einer Vorschrift vorgelegt wird, ist stets zu prüfen, ob die betreffende Vorschrift verfassungskonform ausgelegt werden kann. Dies ist im vorliegenden Besprechungsfall geschehen. Der VI. Senat hat die Frage geprüft und bejaht, ob die Vorschrift des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden kann, dass mit der Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte auch die negative Summe der Einkünfte gemeint sein kann.

3. In der praktischen Konsequenz führt die Rechtsauffassung des VI. Senats dazu, dass nicht nur dann eine Amtsveranlagung durchzuführen ist, wenn die positive Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren ("Nebeneinkünfte"), den Betrag von 800 DM (410 €) übersteigt. Gleiches trifft – und dies ist das Neue – auch dann zu, wenn die entsprechende negative Summe der Einkünfte diesen Betrag übersteigt. Bei dieser Gesetzesauslegung ergibt sich folglich ein Korridor einschlägiger Summen von + 800 DM bis ./. 800 DM, in der keine Amtsveranlagung durchzuführen ist.

Die Auffassung des VI. Senats löst damit das schon immer "missliche" Problem, dass erhebliche Verluste des Steuerpflichtigen bisher nur deshalb nicht anerkannt wurden, weil der Kläger auch Arbeitnehmer ist bzw. Arbeitslohn bezogen hat. Bei geringen "Nebeneinkünften" (innerhalb des bezeichneten Korridors) kann es hingenommen werden, dass die materiell zutreffende ESt nicht festgesetzt wird. Jedoch wird die verfassungsrechtlich gebotene gleichheitsgerechte Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit sowohl bei einer höheren positiven als auch bei einer höheren negativen Summe der "Nebeneinkünfte"zunehmend verfehlt.

4. Wäre die vorgenannte Frage dahingehend, dass § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG auch die negative Summe der Einkünfte umfasst, zu verneinen gewesen, so wäre der bereits vorhandene Gleichheitsverstoß im Vergleich zu den Sachverhalten in den Vorlagebeschlüssen VI R 46/05 und VI R 49/04 noch gravierender ausgefallen. Dies hätte den VI. Senat konsequenterweise dazu veranlassen müssen, die bezeichneten Vorlagebeschlüsse auf den im Besprechungsfall gegebenen Sachverhalt zu erweitern.

5. Sollte sich der Gesetzgeber im Übrigen dazu entschließen, § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG entgegen der Auffassung des VI. Senats dahingehend einzugrenzen, dass nur die positive Summe der Einkünfte zu einer Amtsveranlagung führen könne (oder anders ausgedrückt: sollte die erfolgreiche Geltendmachung von Verlusten von mehr als 800 DM bzw. 410 € nur über eine Antragsveranlagung möglich sein), wäre es nur konsequent, wenn der BFH das BVerfG auch für diese, den Steu...

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