Rz. 21

Die angemessene Entscheidungsfrist (s. Rz. 1820a) läuft nicht ab, wenn die Behörde für die Verzögerung der Sachentscheidung einen zureichenden Grund hat und diesen dem Kläger auch mitgeteilt (s. Rz. 29) hat. Zureichender Grund ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der der vollen gerichtlichen Nachprüfung unterliegt.

Ob für das Fehlen der Einspruchsentscheidung ein rechtfertigender Grund vorliegt, der die Bearbeitungszeit noch als angemessen erscheinen lässt, ist nach den gesamten Umständen des Einzelfalls zu beurteilen[1]. Dabei sind einerseits der sachliche Umfang und die rechtlichen Schwierigkeiten des Falls und andererseits das Interesse des Rechtsbehelfsführers an einer baldigen Entscheidung gegeneinander abzuwägen (s. Rz. 18).

Die Behörde hat den Grund darzulegen, der sie daran gehindert hat, die Entscheidung zu treffen (s. Rz. 29). Wenn dieser Grund die Verfahrensverzögerung über die Regelfrist hinaus (s. Rz. 18) nicht rechtfertigt, ist die Klage zulässig.

 

Rz. 22

Als zureichender Grund für die Verfahrensverzögerung i. d. S. sind stets Verfahrensmaßnahmen im Einspruchsverfahren anzusehen, die den Ablauf betreffen, also:

  • die Anordnung der Aussetzung des Verfahrens nach § 363 Abs. 1 AO[2].
  • das Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 S. 1 AO mit Zustimmung des Einspruchsführers[3].
  • das Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 S. 2 AO kraft Gesetzes, wenn wegen der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm oder wegen einer Rechtsfrage ein Verfahren beim EuGH, BVerfG oder ein Verfahren bei einem obersten Bundesgericht anhängig ist. Der Eintritt der "Zwangsruhe" setzt voraus, dass das gerichtliche Verfahren für die Entscheidung über den Einspruch rechtserheblich ist (s. Dumke, in Schwarz, AO, § 363 Rz. 33). Die "Zwangsruhe" ist in ihrem Umfang eingeschränkt. Sie tritt nach dem eindeutigen Wortlaut des § 363 Abs. 2 S. 2 AO nur insoweit ein, als die offene Rechtsfrage des Musterverfahrens sich auf den mit dem Einspruch angefochtenen Verwaltungsakt auswirkt. Es tritt nur eine "Teilruhe" ein, wenn im Einspruchsverfahren noch über andere Streitpunkte zu entscheiden ist. Für den nicht ruhenden Teil des Einspruchsverfahrens hat die Finanzbehörde i. S. d. Beschleunigungsgebots in angemessener Zeit eine Teileinspruchsentscheidung gemäß § 367 Abs. 2a AO zu treffen (s. Dumke, in Schwarz, AO, § 367 Rz. 61). Die Untätigkeit macht insoweit die Untätigkeitsklage zulässig.
  • das Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 S. 3 AO durch Anordnung mittels Allgemeinverfügung.
  • die kraft Gesetzes eintretenden Unterbrechungen des Einspruchsverfahrens entsprechend §§ 239–250 ZPO (s. Dumke, in Schwarz, AO, § 363 Rz. 35).

Im Rahmen der Klage nach § 46 Abs. 1 FGO sind die inhaltlichen Voraussetzungen dieser Ausnahmegründe vollen Umfangs zu überprüfen[4].

 

Rz. 23

Ob im Übrigen ein zureichender Grund für die Verzögerung der Einspruchsentscheidung anzuerkennen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (s. Rz. 21). Ein zureichender Grund i. S. v. § 46 Abs. 1 FGO liegt vor, wenn eine Entscheidung nach objektiven Gesichtspunkten im Einzelfall noch nicht erwartet werden kann bzw. wenn es nach den besonderen Umständen des Einzelfalls einleuchtend erscheint, dass das Einspruchsverfahren noch nicht abgeschlossen wurde[5].

Kein zureichender Grund sind behördliche Organisationsmängel. Personalmangel und demzufolge Arbeitsüberlastung, Personalausfall durch Krankheit oder Urlaub (s. BFH v. 27.4.2006, IV R 18/04, BFH/NV 2006, 2017; Tipke, in T/K, AO, § 46 FGO Rz. 12; v. Beckerath, in Beermann/Gosch, AO, § 46 FGO Rz. 120; v. Groll, in Gräber, FGO, § 46 Rz. 22; a. A. insoweit BFH v. 22.9.1967, VI B 19/67, BStBl II 1968, 61) liegen in der Sphäre der Behörde und stellen demgemäß keinen zureichenden Grund für die Untätigkeit dar (vgl. Steinhauff, in HHSp, AO, § 46 FGO Rz. 142). Das Fehlen der Steuerakten ist regelmäßig kein zureichender Grund für die Verfahrensverzögerung, wenn sich die Behörde die Akten kurzfristig beschaffen kann[6].

 

Rz. 24

Kein zureichender Grund sind auch Schwierigkeiten bei der Rechtsfindung. Die Amtsträger müssen in der Lage sein, das Gesetz in angemessener Zeit anzuwenden. Sie können sich nicht darauf berufen, dass:

  • Verwaltungsanweisungen nicht vorliegen (vgl. Steinhauff, in HHSp, AO, § 46 FGO Rz. 142; v. Beckerath, in Beermann/Gosch, AO, § 46 FGO Rz. 118; a. A. BFH v. 22.9.1967, VI B 19/67, BStBl II 1968, 61; BFH v. 13.5.1971, V B 61/70, BStBl II 1971, 492);
  • noch keine Einigung auf der Bund-Länderebene über die Bewertung einer kürzlich ergangenen BFH-Entscheidung erzielt worden sei[7] oder noch keine "Freigabe" für die Anwendung der BFH-Entscheidung erfolgt ist[8];
  • die Veröffentlichung im BStBl einer schon vor Monaten getroffenen BFH-Entscheidung noch nicht erfolgt ist[9];
  • eine Abstimmung der Entscheidung mit der vorgesetzten Behörde oder mit anderen Behörden geboten war[10].

Auch eine geplante Gesetzesänderung berechtigt grundsätzlich nicht zur Verfahrensverzögerung[11].

Auch die Höhe des Streitwerts ist kein zureichender Grund, die Entsche...

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