Rz. 37

§ 102 S. 2 FGO wurde mit Wirkung ab 23.12.2001 eingeführt und sollte die Vorschrift an § 114 VwGO angleichen. § 102 S. 2 FGO erlaubt der Finanzbehörde, die bis zur letzten maßgeblichen Verwaltungsentscheidung angestellten Ermessenserwägungen bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens zu ergänzen. Dagegen wird die Finanzbehörde dadurch nicht dazu ermächtigt, Ermessenserwägungen bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt erstmals anzustellen oder den Verwaltungsakt erstmals überhaupt mit einer oder mit einer neuen Begründung zu versehen.[1] Entsprechendes gilt für die Erwägungen, die einer wertenden Entscheidung mit Beurteilungsspielraum zugrunde liegen.[2] Eine Ergänzung der Ermessenserwägungen im Revisionsverfahren erlaubt § 102 S. 2 FGO nicht.[3]

 

Rz. 38

Schon aus ihrer Stellung im Gesetz ergibt sich, dass die Bedeutung der Vorschrift sich im Prozessrechtlichen erschöpft. Mit § 102 S. 2 FGO werden lediglich die prozessualen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass defizitäre Ermessenserwägungen ergänzt werden, nicht hingegen, dass das Ermessen erstmals ausgeübt oder die Gründe einer Ermessensausübung (komplett oder doch in ihrem Wesensgehalt) ausgewechselt werden.[4] Es wird nur geregelt, dass im Fall der Ergänzung der Ermessenserwägungen durch die Behörde im Prozess die Klage dadurch nicht unzulässig wird und das Gericht die Ergänzung zu würdigen hat und nicht allein auf die Ermessenserwägungen bis zur Einspruchsentscheidung abstellen darf.

 

Rz. 39

Die Vorschrift ist analog auch im Beschlussverfahren nach § 69 FGO oder § 114 FGO anwendbar.[5] Eine nachträgliche Ergänzung der Ermessenserwägungen kann im Rahmen der Kostenentscheidung gem. § 137 FGO in entsprechender Anwendung berücksichtigt werden.[6]

 

Rz. 40

§ 102 S. 2 FGO gibt zwar der Finanzbehörde die Möglichkeit, ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des (angefochtenen) Verwaltungsakts bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens zu ergänzen. Das FG ist jedoch grundsätzlich nicht dazu verpflichtet, das FA zu einer entsprechenden Ergänzung aufzufordern.[7]

 

Rz. 41

Nach § 126 Abs. 2 AO kann die für einen Verwaltungsakt erforderliche Begründung, Anhörung eines Beteiligten oder Mitwirkung eines Ausschusses bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden. Diese allein die formelle Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts betreffende Regelung gilt, soweit Ermessensentscheidungen oder Beurteilungsspielräume zur Überprüfung stehen, nur für den tatbestandlichen Teil der zur Ermessensentscheidung ermächtigenden Norm. Denn die eigentliche Ermessensentscheidung der Behörde, die Auswahl zwischen mehreren rechtlich möglichen Entscheidungen bei Anwendung der Ermächtigungsnorm, ist inhaltlich so eng mit den anzustellenden Ermessenserwägungen verknüpft, dass fehlende Erwägungen niemals einen allein formalen Mangel darstellen können, sondern zwingend materiell-rechtliche Auswirkungen haben müssen. Soweit die eigentliche Ermessensentscheidung zu überprüfen ist, ist § 102 S. 2 FGO lex spezialis zu § 126 Abs. 2 AO.[8] Im Rahmen von Ermessensentscheidungen dürfen daher die Ermessenserwägungen nur nachträglich ergänzt, nicht dagegen vollständig nachgeholt werden.[9]

[2] S. Rz. 8.
[5] Lange, in HHSp, AO/FGO, § 102 FGO Rz. 76.
[6] Lange, in HHSp, AO/FGO, § 102 FGO Rz. 121.
[8] A. A. Wiese/Leingang-Ludolph, DB 2001, 2469, die eine nachträglich formulierte und niedergelegte Darstellung der zuvor angestellten Ermessenserwägungen nach der rein formalen Vorschrift von § 126 Abs. 2 AO für möglich halten.
[9] v. Groll, in Gräber, FGO, 7. Aufl. 2010, § 102 FGO Rz. 20.

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