Rz. 31

§ 91 Abs. 2 Nr. 1 AO enthält zwei selten zur Anwendung kommende Alternativen, die den Finanzbehörden die Möglichkeit einräumen, in besonders eilbedürftigen Fällen von einer Anhörung abzusehen. Nach Alt. 1 ist das Anhörungsrecht eingeschränkt, wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug notwendig erscheint. Dies ist der Fall, wenn eine vorherige Anhörung des Beteiligten das Handlungsziel der Finanzbehörde vereiteln oder zumindest gefährden würde.[1] Häufigster Anwendungsfall in der Praxis der FÄ ist das Arrestverfahren.[2] Nicht unter das Regelbeispiel fällt die Anordnung einer LSt-Nachschau nach § 42g EStG, einer Kassennachschau nach § 146b AO oder einer USt-Nachschau nach § 27b UStG, da die vorherige Ankündigung (und damit auch die Anhörung) durch die spezielle Regelung ausgeschlossen wird.[3] Eilbedürftigkeit und Vereitelungsgefahr i. d. S. dürften aber auch gegeben sein, wenn sich der Beteiligte ins Ausland absetzen oder Beweismaterial vernichten will. Der drohende Eintritt einer Festsetzungsverjährung begründet keine Gefahr im Verzug (vgl. aber Rz. 33). Die Finanzbehörde ist vielmehr gehalten, durch geeignete Maßnahmen von vornherein sicherzustellen, dass keine Verjährung eintritt.

 

Rz. 32

Die Alt. 2 lässt ein Absehen von der Anhörung zu, wenn die sofortige Entscheidung im öffentlichen Interesse geboten ist. Hierbei handelt es sich um einen – für die Praxis weitestgehend unbedeutenden – Auffangtatbestand für alle Verwaltungsakte, die nicht unter die übrigen in den Nr. 1 bis 5 genannten Tatbestände fallen.[4] Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Finanzbehörde allein aus Gründen der Zeit- und Kostenersparnis, der Arbeitsüberlastung oder aus allgemeinen Zweckmäßigkeitserwägungen von einer Anhörung absehen darf. Auch die steuerlichen Auswirkungen eines Einzelfalls stellen keinen ausreichenden Grund dar. Der Gesetzgeber hat diesbezüglich mit § 233a AO eine wertende Regelung geschaffen, nach der innerhalb der 15-monatigen Karenzzeit ein übergeordnetes öffentliches Interesse an einem beschleunigten Festsetzungsverfahren ausgeschlossen ist.

 

Rz. 33

§ 91 Abs. 2 Nr. 2 AO gestattet der Finanzbehörde, keine Anhörung durchzuführen, wenn durch die Anhörung die Nichteinhaltung einer für die Entscheidung maßgeblichen Frist droht. Hierunter fallen z. B. die Fristen zur Zahlungs-[5] und Festsetzungsverjährung.[6] Allerdings ist die Finanzbehörde nach einhelliger Ansicht nicht zum Absehen von einer Anhörung berechtigt, wenn ihr genügend Zeit für eine fristgerechte Entscheidung zur Verfügung stand, sie aber ohne besonderen Grund und damit schuldhaft bis kurz vor Ablauf der Frist gewartet hat.[7] Erst recht darf sich die Finanzbehörde nicht dergestalt organisieren, dass bereits durch die Ablauforganisation der Anhörungsgrundsatz allgemein umgangen wird. Allerdings handelt es sich in diesen Fällen um einen nach Maßgabe des § 126 Abs. 1 Nr. 3 AO heilbaren Verfahrensfehler, sodass eine unterlassene Anhörung z. B. im anschließenden Einspruchsverfahren rückstandsfrei korrigiert werden kann. Allerdings kommen in diesen Fällen die Geltendmachung von Amtshaftungsansprüchen in Betracht, wenn die Finanzbehörde eigene Versäumnisse durch eine Verkürzung des rechtlichen Gehörs zu kompensieren versucht.[8]

 

Rz. 34

Einen weiteren Ausnahmetatbestand sieht § 91 Abs. 2 Nr. 3 AO für den Fall vor, dass von den tatsächlichen Angaben, die ein Beteiligter in einem Antrag oder einer Erklärung gemacht hat, nicht bzw. nicht zu seinen Ungunsten abgewichen werden soll.[9] Die Schutzfunktion des § 91 AO hat sich in solchen Fällen bereits im Vorhinein (durch die Angaben in der Erklärung, vgl. Rz. 14) verwirklicht. Eine Anhörung wäre unnötiger Formalismus und deshalb unter verwaltungsökonomischen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen. Ob die Entscheidung der Finanzbehörde von den Angaben des Beteiligten abweicht, richtet sich nach dem objektiv erkennbaren Inhalt des Antrags bzw. der Erklärung.[10]

 

Rz. 35

Der verwaltungsökonomisch motivierte – auf Erleichterungen für die Finanzbehörde im sog. Massenverfahren abzielende – § 91 Abs. 2 Nr. 4 AO erlaubt der Finanzbehörde von einer Anhörung abzusehen, wenn sie eine Allgemeinverfügung[11], gleichartige Verwaltungsakte in größerer Zahl oder Verwaltungsakte mithilfe einer Datenverarbeitungsanlage erlassen will. Die Finanzbehörden wären ohne diese Einschränkung oftmals überhaupt nicht in der Lage, gewisse – eine Vielzahl von Beteiligten betreffende – Verfahren sach- und zeitgerecht durchzuführen. Unter diese Vorschrift fallen z. B. die öffentliche und gesonderte Aufforderung zur Abgabe von Steuererklärungen[12], die Mitteilung an Land- und Forstwirte über den Wegfall der Voraussetzungen für die Besteuerung nach Durchschnittssätzen[13], Zurückweisung von Einsprüchen nach Ergehen der betreffenden Entscheidung des Obergerichts nach § 367 Abs. 2b AO, sowie Kontoauszüge der Finanzkassen mit den entsprechenden Leistungsgeboten, nicht hingegen (auch wenn der Wortlaut dies auf den ersten Blick suggerieren ...

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