Rz. 12

Die Beteiligten sind nach § 91 Abs. 1 AO nur zu den tatsächlichen Verhältnissen zu hören. Tatsachen sind alle Lebenssachverhalte, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art, an die das Gesetz eine Besteuerungsfolge knüpft.[1] Hierbei kann es sich zum einen um – dem Beteiligten unbekannte (vgl. Rz. 14) – Tatsachen handeln, die im Rahmen einer Beweisaufnahme ermittelt worden sind.[2] Dem Beteiligten muss deshalb Gelegenheit gegeben werden, sich zu Tatsachen zu äußern, die sich aus Auskünften anderer Personen[3], aus von Dritten vorgelegten Urkunden[4] oder aus einer Augenscheinseinnahme[5] ergeben haben. Anders als im Rechtsbehelfsverfahren[6] begründet § 91 Abs. 1 AO für das Steuerfestsetzungsverfahren aber kein Recht auf Teilnahme an einer Beweisaufnahme.

 

Rz. 13

Zum anderen lösen diejenigen Tatsachen eine Anhörungspflicht aus, die der Finanzbehörde durch Kontrollmitteilungen[7], Anzeigen von Gerichten, Behörden und Notaren oder anderweitig gesammelte Daten[8] bekannt geworden sind. Schließlich ist der Beteiligte auch zu tatsächlichen Feststellungen in Sachverständigengutachten zu hören.[9]

 

Rz. 14

Nach Sinn und Zweck der Regelung gilt das Anhörungsrecht nur für solche Tatsachen, deren Heranziehung für das konkrete Verfahren dem Beteiligten nicht bekannt ist, weil er diese nicht selbst in das Besteuerungsverfahren eingebracht hat.[10] Hat der Beteiligte eine Steuererklärung abgegeben, so liegen in den darin mitgeteilten tatsächlichen Verhältnissen vorweggenommene Äußerungen, zu denen die Finanzbehörde nicht erneut nach § 91 Abs. 1 AO rechtliches Gehör gewähren muss. Entsprechendes gilt für die in einem Antrag auf Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts enthaltenen und von der Finanzbehörde übernommenen Angaben.[11]

 

Rz. 15

Fraglich ist, ob und in welchem Umfang den Beteiligten bei geplanten Schätzungen ein Anhörungsrecht zusteht. Sie ist im Regelfall nicht erforderlich, weil der Beteiligte mit der Aufforderung zur Abgabe der Steuererklärung bereits Gelegenheit zum Vortrag aller Tatsachen hatte[12], insbesondere dann, wenn er auf die Möglichkeit einer Schätzung bei Nichtabgabe hingewiesen worden ist. Eine Anhörung kann geboten sein, wenn die Finanzbehörde eine Schätzungsmethode anwenden will, die von den bereits erörterten Schätzungsmethoden erheblich abweicht. Gleiches gilt, wenn neuer Tatsachenstoff in die Schätzung eingeführt werden soll.[13] Im Übrigen kann von der Finanzbehörde nicht verlangt werden, den Beteiligten (nochmals) formal anzuhören, wenn dieser zuvor unter Hinweis auf die beabsichtigte Schätzung zur Abgabe einer Steuererklärung oder Vorlage von Unterlagen aufgefordert worden ist.[14] Erst recht ist die Finanzbehörde nicht dazu verpflichtet, ihm in dem Hinweisschreiben noch zusätzlich mitzuteilen, in welcher Höhe sie die Besteuerungsgrundlagen voraussichtlich schätzen wird.[15]

 

Rz. 16

Die Sachverhaltswürdigung, d. h. die Subsumtion der tatsächlichen Verhältnisse unter eine Besteuerungsnorm, ist nach dem eindeutigen Wortlaut nicht Gegenstand des § 91 Abs. 1 AO. Die Finanzbehörde ist deshalb auch nicht verpflichtet, anlässlich einer vom Rechtsstandpunkt des Beteiligten abweichenden rechtlichen Würdigung diesen hierzu vor Erlass des Verwaltungsakts zu hören.[16] Die Finanzbehörde muss dem Beteiligten weder ihre Rechtsauffassung mitteilen noch Gelegenheit geben, zu dieser Stellung zu nehmen. Das unterlassene Rechtsgespräch begründet damit – im Gegensatz zur unterlassenen Tatsachenanhörung – keinen Verfahrensverstoß. Auch nach der Schaffung der Möglichkeit, nach § 150 Abs. 7 Satz 1 AO eine von der Verwaltungsauffassung abweichende Rechtsauffassung mitzuteilen, gilt nichts anderes. Es stellt für den Stpfl. eben gerade nicht eine Stellungnahme erforderlich machende Erkenntnis dar, wenn die Verwaltung – insoweit erwartungsgemäß – der überkommenden und dem Erklärenden bekannten Verwaltungsauffassung folgt.

 

Rz. 17

§ 91 Abs. 1 AO schützt insofern nicht vor sog. Überraschungsentscheidungen, die ihren Ursprung in der unterschiedlichen Beantwortung einer Rechtsfrage haben.[17] Es dürfte aber in vielen Fällen zweckdienlich sein, den Beteiligten auch über die Rechtsauffassung der Finanzbehörde zu informieren und ihm hierzu Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Gesetzlich normiert ist dies z. B. bei der beabsichtigen Verböserung nach Einlegung eines Einspruchs[18], durch die dem Sinn des Einspruchsverfahrens zur Wahrung der Rechte des Stpfl. folgend vor einer ihm ungünstigen Entscheidung gewarnt wird und Gelegenheit zur Rücknahme gegeben werden soll. Dies gilt jedoch nicht in Fällen, in denen die Verwaltungsauffassung in einer allgemein zugänglichen Quelle (z. B. im BStBl) veröffentlicht ist.

[2] Grube, DStZ 2013, 193
[9] Söhn, in HHSp, AO/FGO, § 91 AO Rz. 66; Seer, in Tip...

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