Rz. 28

Die der Finanzbehörde für alle typischen Fälle auferlegte Verpflichtung, den Beteiligten vor Erlass eines belastenden Verwaltungsakts anzuhören, gilt aber nicht uneingeschränkt. So zählt § 91 Abs. 2 AO einige Ausnahmesituationen auf, in denen von einer Anhörung abgesehen werden kann. § 91 Abs. 3 AO sieht ein Anhörungsverbot vor. Durch diese Einschränkungen wird ein Ausgleich zwischen den Interessen der Beteiligten auf Verfahrensteilhabe und einer insbesondere im Massenverfahren auf Flexibilität angewiesenen Steuerverwaltung geschaffen.

3.1 Absehen von der Anhörung (§ 91 Abs. 2 AO)

3.1.1 Allgemeines

 

Rz. 29

Nach § 91 Abs. 2 AO kann von der Anhörung abgesehen werden, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalls nicht geboten ist. Liegen solche Umstände vor, so hat die Finanzbehörde eine Ermessensentscheidung zu treffen. Voraussetzung ist aber auch in diesem Zusammenhang immer, dass eine atypische Fallgestaltung vorliegt (vgl. Rz. 5). Hiervon ist nicht generell beim Erlass eines Haftungsbescheids nach § 71 AO unter dem Gesichtspunkt auszugehen, dass im Falle einer vorsätzlich begangenen Steuerstraftat das Haftungsermessen in der Weise vorgeprägt ist, dass die Abgaben gegen den Straftäter festzusetzen sind.[1] Für die Beantwortung der Frage, ob von einer solchen Ausnahmesituation auszugehen ist, geben die in den Nr. 1 bis 5 genannten Gründe eine gewisse Orientierung. Die Aufzählung ist nicht abschließend ("insbesondere"). Nicht ausdrücklich aufgeführte Gründe müssen mit den Regelbeispielen wesensverwandt und in ihrer Bedeutung vergleichbar sein, um wie diese ein Absehen von der Anhörung zu rechtfertigen.[2] Hierbei sind strenge Maßstäbe anzulegen. Verwaltungsökonomische Gründe und/oder Praktikabilitätserwägungen dürfen nur in sehr engen Grenzen zu einer Ausdehnung des Anwendungsbereichs führen.

 

Rz. 30

Die Entscheidung darüber, ob nach den Umständen des Einzelfalls eine Anhörung nicht geboten ist, trifft die Finanzbehörde. Bei der Beurteilung ist von einer ex-ante-Sicht auszugehen. Maßgeblich ist demnach, wie sich die Situation im Zeitpunkt der Entscheidung für den zuständigen Amtsträger dargestellt hat, nicht wie sie sich im Nachhinein erweist.[3] Die Finanzbehörde kann allerdings nicht allein deshalb eine Anhörung unterlassen, weil sie vermutet, dass vom Beteiligten keine sachdienlichen Informationen zu erwarten sind. Dies wäre eine unzulässige Vorwegnahme des möglichen Anhörungsergebnisses.[4]

[2] Roser, in Gosch, AO/FGO, § 91 AO Rz. 20; Koenig/Hahlweg, AO, 4. Aufl. 2021, § 91 Rz. 30; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 23. Aufl. 2022, § 28 VwVfG Rz. 46.
[3] Kopp/Ramsauer, VwVfG, 23. Aufl. 2022, § 28 VwVfG Rz. 53.
[4] Söhn, in HHSp, AO/FGO, § 91 AO Rz. 147; insoweit unklar BFH v. 16.11.1999, VII R 95, 96/98, BFH/NV 2000, 531.

3.1.2 Regelbeispiele

 

Rz. 31

§ 91 Abs. 2 Nr. 1 AO enthält zwei selten zur Anwendung kommende Alternativen, die den Finanzbehörden die Möglichkeit einräumen, in besonders eilbedürftigen Fällen von einer Anhörung abzusehen. Nach Alt. 1 ist das Anhörungsrecht eingeschränkt, wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug notwendig erscheint. Dies ist der Fall, wenn eine vorherige Anhörung des Beteiligten das Handlungsziel der Finanzbehörde vereiteln oder zumindest gefährden würde.[1] Häufigster Anwendungsfall in der Praxis der FÄ ist das Arrestverfahren.[2] Nicht unter das Regelbeispiel fällt die Anordnung einer LSt-Nachschau nach § 42g EStG, einer Kassennachschau nach § 146b AO oder einer USt-Nachschau nach § 27b UStG, da die vorherige Ankündigung (und damit auch die Anhörung) durch die spezielle Regelung ausgeschlossen wird.[3] Eilbedürftigkeit und Vereitelungsgefahr i. d. S. dürften aber auch gegeben sein, wenn sich der Beteiligte ins Ausland absetzen oder Beweismaterial vernichten will. Der drohende Eintritt einer Festsetzungsverjährung begründet keine Gefahr im Verzug (vgl. aber Rz. 33). Die Finanzbehörde ist vielmehr gehalten, durch geeignete Maßnahmen von vornherein sicherzustellen, dass keine Verjährung eintritt.

 

Rz. 32

Die Alt. 2 lässt ein Absehen von der Anhörung zu, wenn die sofortige Entscheidung im öffentlichen Interesse geboten ist. Hierbei handelt es sich um einen – für die Praxis weitestgehend unbedeutenden – Auffangtatbestand für alle Verwaltungsakte, die nicht unter die übrigen in den Nr. 1 bis 5 genannten Tatbestände fallen.[4] Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Finanzbehörde allein aus Gründen der Zeit- und Kostenersparnis, der Arbeitsüberlastung oder aus allgemeinen Zweckmäßigkeitserwägungen von einer Anhörung absehen darf. Auch die steuerlichen Auswirkungen eines Einzelfalls stellen keinen ausreichenden Grund dar. Der Gesetzgeber hat diesbezüglich mit § 233a AO eine wertende Regelung geschaffen, nach der innerhalb der 15-monatigen Karenzzeit ein übergeordnetes öffentliches Interesse an einem beschleunigten Festsetzungsverfahren ausgeschlossen ist.

 

Rz. 33

§ 91 Abs. 2 Nr. 2 AO gestattet der Finanzbehörde, keine Anhörung durchzuführen, wenn ...

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