Rz. 81

Für die Frage, ob ein rückwirkendes Ereignis vorliegt, kommt es m. E. nur darauf an, dass es nach dem Zeitpunkt des Entstehens der Steuer eingetreten ist. Nicht maßgebend sind daher die Kenntnis oder das Kennenmüssen der Finanzbehörde. Es ist m. E. daher unbeachtlich, ob das Ereignis bei der Steuerfestsetzung hätte berücksichtigt werden können. Es kommt somit nicht auf den Zeitpunkt der Kenntnis der Finanzbehörde an, sondern darauf, wann das Ereignis eingetreten ist. Änderung der Steuerfestsetzung aufgrund späterer Kenntniserlangung eines vor dem Entstehen des Steueranspruchs eingetretenen Ereignisses fällt unter den Tatbestand des § 173 Abs. 1 AO, nicht den des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO. Nach der Rspr. muss das Ereignis jedoch zusätzlich nach Ergehen der Steuerfestsetzung, bei einer Steuerfestsetzung nach § 164 AO nach Aufhebung des Vorbehalts, bei einem Einspruchsverfahren nach Ergehen der Einspruchsentscheidung, also "nachträglich" nach der Steuerfestsetzung, eingetreten sein. Danach greift die Änderungsvorschrift nicht ein, wenn das Ereignis zwar nach der Entstehung des Steueranspruchs eingetreten ist, aber bereits bei Erlass des zu ändernden Steuerbescheids berücksichtigt werden konnte.[1]

M. E. ist dieser Ansicht nicht zu folgen, da sie Merkmale des § 173 AO (Bekanntsein im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung) auf den Tatbestand des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO überträgt. Der Tatbestand des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO enthält die Voraussetzung des Eintritts des Ereignisses nach Erlass des Steuerbescheids nicht, sondern nur, dass das Ereignis "Rückwirkung" entfaltet. Der Begriff der "Rückwirkung" kann sich nur auf das Entstehen des Steueranspruchs beziehen, nicht auf seine Festsetzung. "Rückwirkung" bezeichnet den Eintritt der materiellen Wirkung des Ereignisses, bezieht sich also nicht auf den formellen Zeitpunkt einer Steuerfestsetzung. Die gegenteilige Rechtsprechung findet daher keinen Anhaltspunkt im Gesetz. Vielmehr sollte es genügen, dass das Ereignis rückwirkend nach dem Zeitpunkt des Entstehens des Steueranspruchs eintritt. Auch aus verwaltungspraktischer Sicht rechtfertigt sich diese Ansicht. Die Finanzverwaltung hat bei einer (erstmaligen) Steuerfestsetzung zwar Ermittlungen hinsichtlich der im Besteuerungszeitraum eingetretenen Besteuerungsgrundlagen anzustellen, hat aber nicht unbedingt Anlass, nach der Entstehung des Steueranspruchs eintretende Tatsachen zu ermitteln. Auch aus diesem Gesichtspunkt rechtfertigt sich die Anwendung der besonderen Änderungsvorschrift des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO, wenn das rückwirkende Ereignis nach dem Entstehen des Steueranspruchs, aber vor der erstmaligen oder geänderten Steuerfestsetzung eingetreten ist. Der BFH (a. a. O.) begründet seine abweichende Ansicht damit, dass das Ereignis "nachträglich" eingetreten sein müsse, da sonst kein Bedürfnis für eine Änderung der Steuerfestsetzung bestehe. Das Gesetz verwendet aber, anders als in § 173 AO, in § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO das Wort "nachträglich" nicht. Entscheidend ist also nicht, ob das Ereignis "nachträglich", und damit zeitlich nach der Steuerfestsetzung eingetreten ist, sondern ob es materielle Rückwirkung entfaltet. Rückwirkung kann das Ereignis nur haben, wenn es nach dem Entstehen des Steueranspruchs eingetreten ist. Dies ist also der maßgebende Zeitpunkt. Folge der Rechtsprechung des BFH (a. a. O.) ist, dass ein vor der Steuerfestsetzung, aber nach dem Entstehen des Steueranspruchs eingetretenes Ereignis keine Rückwirkung entfaltet. Ist es der Finanzbehörde nicht bekannt, kann statt einer Änderung nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO konsequenterweise eine Änderung nach § 173 AO erfolgen.

 

Rz. 82

Dagegen ist, auch wenn man die obige Rechtsprechung zugrunde legt, die Änderung nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO nicht ausgeschlossen, wenn das rückwirkende Ereignis vor einer Änderung der Steuerfestsetzung nach einer anderen Vorschrift eintritt. Da die Änderungsvorschriften immer nur eine punktuelle Änderung ermöglichen, schließt die Änderung nach § 173 AO oder einer anderen Vorschrift die spätere Änderung nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO nicht aus, auch wenn das rückwirkende Ereignis vor der Änderung der Steuerfestsetzung nach einer anderen Vorschrift eingetreten ist.[2] Es besteht keine Notwendigkeit, alle Änderungsgründe nach verschiedenen Änderungsnormen in einer Änderung zusammenzufassen.

 

Rz. 83

Durch die Auslegung, dass das rückwirkende Ereignis nach dem Entstehen des Steueranspruchs eingetreten sein muss, wird der Anwendungsbereich des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO abgegrenzt von dem des § 173 AO. § 173 AO ist anwendbar, wenn das maßgebliche Tatbestandsmerkmal in dem maßgeblichen Vz bereits eingetreten war, aber bei der Steuerfestsetzung unbekannt ist. § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO ist dagegen anwendbar, wenn das Ereignis, um dessen Berücksichtigung es geht, nach dem maßgeblichen Besteuerungszeitpunkt, jedoch mit Wirkung für die infrage stehende Besteuerung eintritt.[3] Bei § 173 AO bestand das Ereignis im Zeitpun...

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