Rz. 67

Nach § 117 Abs. 3 AO können die deutschen Finanzbehörden nach pflichtgemäßem Ermessen zwischenstaatliche Amtshilfe unter bestimmten Voraussetzungen "auch in anderen Fällen" leisten. Da Abs. 1 des § 117 AO die Inanspruchnahme ausländischer Amtshilfe behandelt, Abs. 2 das Leisten von Amtshilfe aufgrund innerstaatlich anwendbarer völkerrechtlicher Vereinbarungen, aufgrund innerstaatlich anwendbarer Rechtsakte der EU (im Zollbereich u. Zusammenarbeitsverordnung) sowie aufgrund des EUAHiG vorsieht, kann Abs. 3 nur "andere Fälle" als Abs. 2 meinen. Das ist zunächst einmal die Amtshilfe für Staaten, mit denen jede völkerrechtliche Amtshilfevereinbarung fehlt. Das muss aber auch für die Fälle gelten, in denen eine völkerrechtliche Vereinbarung vorhanden ist, Abs. 3 aber über deren Inhalt hinausgeht.[1] Das ist vom Gesetzgeber so gewollt[2] und widerspricht auch nicht dem Wortlaut. Eine Anwendung des Abs. 3 kann auch nicht mit der Begründung abgelehnt werden, mit dem Abkommen hätten die betroffenen Staaten eine absolute Grenzlinie für den Amtshilfeverkehr gezogen und die deutschen Finanzbehörden dürften die Grenze nicht z. B. zulasten der Gebietsansässigen überschreiten und damit die völkerrechtlichen Vereinbarungen einseitig aushöhlen. Die Voraussetzung des Abs. 3 Nr. 1, dass Gegenseitigkeit verbürgt ist[3], sorgt für die zweiseitige Erweiterung des Amtshilfeverkehrs. In diesen Fällen der Erweiterung der völkerrechtlichen Vereinbarung ist wie in allen anderen Fällen die Sicherheit der Gegenseitigkeit genau zu prüfen. Die Prüfung ist ganz besonders sorgfältig in denjenigen Fällen anzustellen, in denen die völkerrechtliche Vereinbarung sehr eng ausgestaltet ist (z. B. Kleine Klausel); da die enge Fassung ihren Grund hat, besteht hier eine gewisse Vermutung dafür, dass die ausländische Finanzbehörde sich nicht über die engen Abkommensgrenzen hinaus auf die Möglichkeit der Kulanzauskunft berufen wird, zumal diese die Gegenseitigkeit erfordert.[4] Während Seer (a. a. O.) die Selbstständigkeit des § 117 Abs. 3 AO gegenüber dem Abs. 2 betont, empfiehlt Debatin[5] sogar für die Behördenpraxis, von der rechtlichen Möglichkeit des § 117 Abs. 3 AO in diesen Fällen keinen Gebrauch zu machen. Dies könnte in der Tat einen gewissen Druck auf die ausländischen Staaten ausüben, zu einer umfassenderen Amtshilfevereinbarung mit der Bundesrepublik bereit zu sein. Bestehen allerdings überwiegend deutsche Interessen an einem erweiterten Amtshilfeverkehr bereits ohne Abkommen, wäre ein solcher Druck fehlgeleitet. Eine Kulanzauskunft in ein Land, mit dem ein Abkommen überhaupt nicht besteht, kommt nur in Fällen ganz besonderer Bedeutung in Betracht.[6] In Anbetracht der sich immer weiter intensivierenden Vertragslage mit EU-Mitgliedstaaten und Drittstaaten kommt der Anwendung der Kulanzauskunft eine immer geringere Bedeutung zu. Mit einigen der Staaten, mit denen bislang kein Abkommen geschlossen wurde, laufen aktuell Verhandlungen.[7]

[1] H. M.; vgl. Schelle, WPg 1977, 345; Klein/Rätke, AO, 13. Aufl. 2016, § 117 AO Rz. 50; Kaligin, WPg 1982, 562; a. A. Fischer, DB 1984, 738.
[2] Vgl. Bericht des BT-Finanzausschusses, BT-Drs. 7/4292, 26f.
[3] Vgl. Rz. 68.
[4] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 117 AO Rz. 121.
[5] DB 1977, 2118.
[7] Übersicht über laufende Verhandlungen unter Ziff. II. in BMF v. 18.1.2017, BStBl I 2017, 140.

6.3.1 Gegenseitigkeit (Abs. 3 Nr. 1)

 

Rz. 68

Wie in den Fällen der Amtshilfe aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarungen soll auch die Kulanzauskunft keine einseitige, sondern eine gegenseitige Hilfe sein. Das Hauptmotiv der Amtshilfebereitschaft jedes Staates für einen anderen ist die Erlangung der Bereitschaft auf der anderen Seite für die eigenen steuerlichen Zwecke. Verpflichtet sich die Bundesrepublik in einem Abkommen zur Leistung umfassender steuerlicher Amtshilfe, so tut sie dies in erster Linie, um eine entsprechende Amtshilfe erlangen zu können. Das gleiche Motiv liegt der Zulassung der Kulanzauskunft zugrunde, die in Abs. 3 ihren gesetzlichen Niederschlag gefunden hat. Da diese Vorschrift also in erster Linie der deutschen Besteuerung dient, ist das Verbürgtsein der Gegenseitigkeit eine fundamentale Voraussetzung der Kulanzauskunft. Umgekehrt erwächst aus dem Gegenseitigkeitsprinzip bei einer durch den ausländischen Staat praktizierten Kulanzamtshilfe ein tatsächlicher Druck auf die Ermessensentscheidungen der deutschen Finanzbehörden nach § 117 Abs. 3 AO.

Das Verbürgtsein der Gegenseitigkeit ist Voraussetzung jeder Kulanzauskunft. Die Gegenseitigkeit kann durch längere Praxis in der Vergangenheit tatsächlich verbürgt sein, sie kann aber auch durch verbindliche Erklärung der fragenden Behörde, der bei der nächsten Gelegenheit Taten folgen, geschehen. "Lippenbekenntnisse" reichen nicht.[1] Eine gewisse Sicherheit in der Kenntnis praktizierter Gegenseitigkeit wird dadurch erreicht, dass die Entscheidung der Kulanzauskunft nach Abs. 3 S. 2 stets vom BMF (bei den Besitz- und Verkehrssteuern im Einverne...

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