A. Abzweigung bei Nichterfüllung der gesetzlichen Unterhaltspflicht (§ 74 Abs 1 S 1 EStG)

1. Unterhaltsberechtigte Kinder

 

Rn. 9

Stand: EL 173 – ET: 06/2024

Auszahlungsempfänger nach § 74 Abs 1 S 1 EStG kann nur das Kind des Kindergeldberechtigten sein, für das das Kindergeld festgesetzt worden ist. Die Regelung betrifft in der Praxis überwiegend Kinder, die den elterlichen Haushalt verlassen haben, Wendl in H/H/R, § 74 EStG Rz 9 (06/2020). Voraussetzung für eine Abzweigung ist ferner, dass das Kind für sich selbst sorgt, Wendl in H/H/R, § 74 EStG Rz 9 (06/2020).

§ 74 Abs 1 EStG erfasst Kinder die als eheliche (§ 1601ff BGB), nichteheliche (§ 1615aff BGB), für ehelich erklärte (§ 1723ff BGB) oder angenommene (Adoptiv-)Kinder (§ 1741ff BGB) gesetzlich unterhaltsberechtigt sind. Die Vorschrift ist nicht analog auf Stiefkinder und Pflegekinder ohne gesetzlichen Unterhaltsanspruch anzuwenden, da keine planwidrige Gesetzeslücke vorliegt, FG SAnh vom 05.07.2011, 4 K 882/10, EFG 2012, 430; FG BdW vom 14.06.2012, 12 K 3606/11, EFG 2012, 2027; Wendl in H/HR, § 74 EStG Rz 7 (06/2020); hingegen analoge Anwendung bejahend: Janda in K/S/M, § 74 EStG Rz B 4 (06/2022).

Der Abzweigung unterliegt das für ein Kind festgesetzte Kindergeld, soweit es nicht der Auszahlungsbeschränkung des § 70 Abs 1 S 2 und 3 EStG unterliegt, V 33.1 Abs 1 DA-KG 2023.

2. Nichterfüllung der Unterhaltspflicht

 

Rn. 10

Stand: EL 173 – ET: 06/2024

Die nicht bloß abstrakt, sondern im Einzelfall konkret festzustellende Unterhaltspflicht des Kindergeldberechtigten korrespondiert mit der anspruchsbegründenden Bedürftigkeit des unterhaltsberechtigten Kindes (vgl § 1602 BGB; BFH vom 16.04.2002, VIII R 50/01, BStBl II 2002, 575; BFH vom 17.03.2006, III B 135/05, BFH/NV 2006, 1285). Der Unterhaltsanspruch des Kindes setzt einen ungedeckten Unterhaltsbedarf des Kindes (FG Düsseldorf vom 07.04.2016, 16 K 1697/15 Kg, FamRZ 2016, 1893) und die Leistungsfähigkeit des Kindergeldberechtigten (§ 1603 BGB) voraus. Es sind unterhaltsrechtliche Maßstäbe nach dem BGB und nicht sozialhilferechtliche Maßstäbe nach dem SGB II oder SGB XII anzulegen, FG SAnh vom 29.03.2012, 4 K 916/11, EFG 2012, 1564. Das Kindergeld kann nach FG Düsseldorf EFG vom 31.07.2008, 14 K 272/08 Kg, EFG 2008, 1983; FG SchlH vom 15.09.2016, 4 K 82/16; FG SchlH vom 28.06.2017, 2 K 217/16 zumindest dann an minderjährige Kinder abgezweigt werden, wenn ein Vormund bestellt ist, dem auch die Vermögensfürsorge obliegt. Eine Nichterfüllung der Unterhaltspflicht ist auch dann gegeben, wenn der Jugendhilfeträger die Kosten des notwendigen Unterhalts für das in einer betreuten Wohnform lebende volljährige Kind deshalb übernimmt, weil der Kindergeldberechtigte eine Beteiligung an den Kosten ablehnt, BFH vom 15.07.2010, III R 89/09, BStBl II 2013, 695.

Die Abzweigung setzt lediglich die objektive Verletzung der gesetzlichen Unterhaltspflicht voraus, eine schuldhafte Verletzung der Unterhaltspflicht ist nicht erforderlich, BFH vom 23.02.2006, III R 65/04, BStBl II 2008, 753; Wendl in H/H/R, § 74 EStG Rz 8 (06/2020); die Nichterfüllung einer individuellen Unterhaltsvereinbarung reicht nicht aus, BFH vom 06.06.2006, III B 202/05, BFH/NV 2006, 1653. Es genügt eine partielle Pflichtverletzung, denn wer Leistungen schuldig bleibt, kommt iSv § 74 Abs 1 S 1 EStG seiner Unterhaltspflicht nicht nach, FG Brandenburg vom 13.05.2004, 6 K 1098/03, EFG 2004, 1635. Dabei ist auf den einzelnen Monat abzustellen, FG München vom 12.12.2007, 10 K 4917/06, EFG 2008, 698.

Aber nicht bereits die einmalige oder die unwesentliche, sondern erst die fortdauernde Verletzung der Unterhaltspflicht rechtfertigt eine Abzweigung des Kindergelds, Wendl in H/H/R, § 74 EStG Rz 8 (06/2020); V 33.2 Abs 2 S 4 und 5 DA-KG 2023. Die insofern bedeutsame Höhe des Unterhaltsanspruchs ist primär dem rechtskräftigen Unterhaltstitel zu entnehmen. Liegt ein solcher nicht vor, müssen die von den Zivilgerichten entwickelten Orientierungshilfen (zB die Düsseldorfer Tabelle) sowie bei minderjährigen Kindern nach Wahl des Kindes die RegelbeitragsVO nach § 1612a BGB herangezogen werden; Wendl in H/H/R, § 74 EStG Rz 7 (06/2020); Selder in Brandis/Heuermann, § 74 EStG Rz 13 (10/2021).

Eine "einvernehmliche" Abzweigung des Kindergeldes sieht § 74 EStG hingegen nicht vor, BFH vom 10.04.2012, III B 131/11, BFH/NV 2012, 1129.

Die Art der Unterhaltsgewährung für ein unverheiratetes Kind können nach § 1612 Abs 2 BGB die Eltern bestimmen. Die Eltern verletzen ihre Unterhaltspflicht nicht, wenn sie ihrem unverheirateten Kind den Unterhalt in Form von Unterkunft, Verpflegung und Bekleidung anbieten. Gegenüber einem volljährigen auswärts lebenden Kind ist jedoch grundsätzlich Unterhalt durch eine Geldrente zu leisten, sodass eine Auszahlung des Kindergelds an das Kind erfolgen kann, wenn der Unterhaltsverpflichtete Naturalunterhalt anbietet, BFH vom 17.03.2006, III B 135/05, BFH/NV 2006, 1285; FG Düsseldorf vom 04.07.2005, 14 K 5656/04 Kg, EFG 2005, 1787; FG Münster vom 25.11.2004, 5 K 429/02 Kg, EFG 2005, 792; FG Münster vom 23.10.2007, 8 K 590/06 Kg, EFG 2008, 386.

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