Entscheidungsstichwort (Thema)

Abzweigung des Kindergeldes bei vollstationärer Unterbringung des Kindes auf Kosten des Sozialhilfeträgers; keine Ermessensreduzierung auf Null bei Unterhaltsaufwendungen des Kindergeldberechtigten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ist ein behindertes volljähriges Kind auf Kosten des Sozialhilfeträgers vollstationär in einer Pflegeeinrichtung untergebracht und wird der Kindergeldberechtigte aufgrund der Billigkeitsregelung in § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG a.F. nicht in Anspruch genommen, kommt dieser seiner Unterhaltspflicht nicht nach, so dass die Familienkasse das Kindergeld nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG an den Sozialhilfeträger abzweigen kann.

2. Auch wenn der Kindergeldberechtigte neben den Leistungen des Sozialhilfeträgers nur geringe eigene Unterhaltsleistungen für das Kind erbringt, ist die Ermessensentscheidung der Familienkasse, ob und in welcher Höhe das Kindergeld an den Sozialhilfeträger abgezweigt wird, nicht dahin gehend auf Null reduziert, dass das gesamte Kindergeld an den Sozialhilfeträger auszuzahlen ist.

 

Normenkette

AO 1977 § 5; BSHG § 91; EStG § 74 Abs. 1

 

Verfahrensgang

FG München (Entscheidung vom 21.04.2004; Aktenzeichen 9 K 1018/04; EFG 2004, 1543)

 

Tatbestand

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Vater eines im Jahr 1956 geborenen Sohnes, der schon von Kindheit an zu 100 % schwerbehindert und in einer Einrichtung für Behinderte vollstationär untergebracht ist. Das Sozialamt (die Beigeladene) gewährte dem Sohn für die Unterbringung in der Pflegeeinrichtung Eingliederungshilfe. Vom Kläger wurde gemäß § 91 Abs. 2 Satz 2 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) i.d.F. vom 23. Juli 1996 (BGBl I 1996, 1088) keine Erstattung der Kosten verlangt.

Die monatlichen Kosten betrugen nach Auskunft der Beigeladenen im Jahr 2001 monatlich 3 495,75 € (Heimunterbringung 3 373,20 €, Barbetrag 122,55 €). Zur Deckung der Kosten für die Unterbringung erhielt sie die Erwerbsunfähigkeitsrente des Sohnes in Höhe von 682,74 €, seinen Kostenbeitrag aus den Einnahmen für die Tätigkeit in der Behindertenwerkstatt in Höhe von 22,31 € und das Kindergeld in Höhe von 138 €. In den Vorjahren seien ähnliche Beträge gezahlt worden.

Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) hob ab Januar 1997 die Festsetzung des Kindergeldes auf. Nach der seit 1996 geltenden Rechtslage bestehe von 1977 an nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes 1996 (EStG) kein Anspruch mehr auf Kindergeld, weil der Sohn aufgrund der Eingliederungshilfe in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten. Nachdem der Bundesfinanzhof (BFH) entschieden hatte, ein volljähriges behindertes Kind sei auch dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es im Rahmen der Eingliederungshilfe vollstationär untergebracht sei (BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75), setzte die Familienkasse durch Bescheid vom 21. Juli 2000 Kindergeld für den Sohn des Klägers rückwirkend ab Januar 1997 fest und verfügte, dem Antrag der Beigeladenen entsprechend, dass das Kindergeld in voller Höhe an die Beigeladene auszuzahlen sei. Den Einspruch des Klägers gegen die Abzweigung des Kindergeldes wies die Familienkasse zurück.

Mit der Klage machte der Kläger geltend, eine Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG sei nicht zulässig, da er seine Unterhaltspflicht nicht verletzt habe (§ 74 Abs. 1 Satz 1 EStG). Zudem habe er für seinen Sohn erhebliche zu dessen Lebensführung erforderliche Aufwendungen erbracht. So habe er beispielsweise Einrichtungsgegenstände für das Zimmer seines Sohnes im Heim gekauft, stelle seinem Sohn im Elternhaus ein eigenes Zimmer zur Verfügung, übernehme die Fahrtkosten für einen dreimal im Jahr stattfindenden Besuch, trage die Kosten für den einmal im Jahr stattfindenden einwöchigen Radurlaub und für den zweimaligen Besuch pro Jahr von Elterntagungen. Die jährlichen Kosten, die nicht mehr exakt nachgewiesen werden könnten, lägen bei deutlich über 1 000 DM im Jahr.

Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2004, 1543 veröffentlicht.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des FG aufzuheben sowie den Bescheid über die Abzweigung des Kindergeldes und die Einspruchsentscheidung aufzuheben.

Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision des Klägers ist begründet. Das finanzgerichtliche Urteil sowie der Bescheid über die Abzweigung des Kindergeldes und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung werden aufgehoben (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

Das FG hat zwar zu Recht angenommen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Abzweigung des Kindergeldes an die Beigeladene nach § 74 Abs. 1 EStG erfüllt sind. Entgegen der Auffassung des FG ist jedoch die Entscheidung, das Kindergeld in voller Höhe an die Beigeladene auszuzahlen, nicht ermessensgerecht i.S. des § 5 der Abgabenordnung (AO 1977).

1. Nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld nach § 66 Abs. 1 EStG auch an die Person oder Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt.

a) Nach §§ 1601 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ist der Kläger seinem Sohn zur Gewährung von Unterhalt verpflichtet, da dieser sich nicht selbst unterhalten kann. Der Unterhaltsanspruch umfasst nach § 1610 Abs. 2 BGB den gesamten Lebensbedarf. Dazu gehören auch die krankheitsbedingten Mehrkosten eines behinderten und dauernd pflegebedürftigen Kindes (MünchKommBGB/Born, 4. Aufl., § 1610 Rdnr. 75). Die Eingliederungshilfe mindert nicht die Bedürftigkeit des Sohnes, da sie subsidiär ist und den Unterhaltspflichtigen nicht von seiner Verpflichtung befreien soll (vgl. § 2 BSHG; MünchKommBGB/ Luthin, 4. Aufl., § 1602 Rdnr. 32). In der Regel geht der Unterhaltsanspruch des Kindes nach § 91 Abs. 1 Satz 1 BSHG in Höhe der geleisteten Aufwendungen auf den Sozialträger über.

Die Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung bleibt auch dann bestehen, wenn der Anspruch gegen den nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen nach § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG wegen unbilliger Härte nicht auf den Sozialträger übergeht. Eine unbillige Härte liegt in der Regel bei unterhaltspflichtigen Eltern vor, soweit ihrem behinderten Kind nach Vollendung des 21. Lebensjahres Eingliederungshilfe für Behinderte gewährt wird. Die Regelung in § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG hat lediglich zur Folge, dass der gesetzliche Übergang des Unterhaltsanspruchs auf den Sozialhilfeträger nach § 91 Abs. 1 Satz 1 BSHG ausgeschlossen ist. Der Tatbestand des § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG setzt folglich voraus, dass überhaupt ein Unterhaltsanspruch vorhanden ist. Denn soweit ein Unterhaltsanspruch nicht besteht, kann er auch nicht auf den Sozialhilfeträger übergehen (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 21. April 2004 XII ZR 251/01, Zeitschrift für Familienrecht --FamRZ-- 2004, 1097).

b) Der Kläger ist seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht i.S. des § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG nachgekommen, da er jedenfalls die zum Lebensbedarf seines Sohnes gehörenden laufenden Kosten für die Unterbringung in der Pflegeeinrichtung nicht übernommen hat.

Der Unterhaltspflicht nicht nachkommen bedeutet, dass der Kindergeldberechtigte objektiv und dauerhaft für den wesentlichen Unterhalt des Kindes nicht aufkommt. Eine Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG setzt nicht voraus, dass der Kindergeldberechtigte seine Unterhaltspflicht schuldhaft nicht erfüllt oder gar den Straftatbestand der Unterhaltspflichtverletzung (§ 170b des Strafgesetzbuches) verwirklicht (vgl. Felix, in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 74 Rdnr. B 11 ff.; Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach, § 74 EStG Anm. 8). Auf die Gründe für die Nichterfüllung der Unterhaltspflicht --hier Ausschluss des Übergangs des Unterhaltsanspruchs aus Billigkeitsgründen-- kommt es deshalb nicht an.

Die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG für eine Abzweigung sind auch dann erfüllt, wenn der Kindergeldberechtigte in geringem Umfang Unterhaltsleistungen erbringt. Diese Unterhaltsleistungen sind aber bei der Ausübung des Ermessens, ob und in welcher Höhe das Kindergeld abzuzweigen ist, zu berücksichtigen.

c) Entgegen der Auffassung des Klägers besteht kein Anlass, § 74 Abs. 1 EStG im Wege einer teleologischen Reduktion in den Fällen nicht anzuwenden, in denen --wie im Streitfall-- zugleich die Voraussetzungen des § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG vorliegen.

Aus der Abzweigung des Kindergeldes ergibt sich kein Wertungswiderspruch zu § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG, da der Zweck des § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG, einen Rückgriff des Unterhalt leistenden Sozialhilfeträgers auf den Unterhaltsverpflichteten auszuschließen, durch die Abzweigung des Kindergeldes nicht beeinträchtigt wird. Der Zweck des § 74 Abs. 1 EStG liegt darin, das Kindergeld an das Kind oder an eine anstelle des Kindergeldberechtigten Unterhalt leistende Person oder Einrichtung auszuzahlen, wenn dem Kindergeldberechtigten kein kindbedingter Aufwand durch den Unterhalt entsteht. Diese Regelung steht im Einklang mit dem Zweck des Kindergeldes, Eltern wegen ihrer Unterhaltsaufwendungen für ihre Kinder zu entlasten. Tragen Eltern aber keine oder nur geringe Kosten, ist eine derartige Entlastung nicht oder nur in entsprechend geringem Umfang erforderlich (vgl. BFH-Urteil vom 27. Oktober 2004 VIII R 65/04, BFH/NV 2005, 538). Infolgedessen kann in der Abzweigung des Kindergeldes nach § 74 Abs. 1 EStG keine --mit der Regelung des § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG nicht beabsichtigte-- Inanspruchnahme des Unterhaltsverpflichteten aus dem Unterhaltsanspruch gesehen werden.

2. Zu Unrecht hat das FG jedoch im Streitfall eine sog. Ermessensreduzierung auf Null dahin gehend angenommen, dass ermessensgerecht i.S. des § 5 AO 1977 allein die Abzweigung des Kindergeldes in voller Höhe an die Beigeladene sei.

Die Familienkasse hat bei der Ausübung des ihr in § 74 Abs. 1 EStG eingeräumten Ermessens den Zweck des Kindergeldes zu berücksichtigen (§ 5 AO 1977). Das Kindergeld dient der steuerlichen Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes und, soweit es dafür nicht erforderlich ist, der Förderung der Familie (§ 31 Sätze 1 und 2 EStG). Da das Kindergeld die Eltern wegen ihrer Unterhaltsleistungen steuerlich entlasten soll, sind bei der Prüfung, ob und inwieweit das Kindergeld abzuzweigen ist, auch geringe Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten miteinzubeziehen.

Bestätigt wird dies durch § 74 Abs. 1 Satz 3 Alternative 2 EStG. Danach kann das Kindergeld auch dann abgezweigt werden, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur in Höhe eines unter dem Kindergeld liegenden Betrages. Hieraus ergibt sich, dass eine Abzweigung nicht zulässig ist, soweit der Kindergeldberechtigte seiner Unterhaltspflicht entsprechend Unterhalt in Höhe des Kindergeldes oder darüber hinaus leistet (vgl. BFH-Urteil vom 17. November 2004 VIII R 30/04, BFH/NV 2005, 692). Da das FG im Streitfall unterstellt hat, der Kläger habe zumindest geringe Unterhaltsaufwendungen erbracht, ist die Abzweigung des Kindergeldes in voller Höhe nicht die einzig ermessensgerechte Entscheidung.

3. Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Die Vorentscheidung sowie der Bescheid über die Abzweigung des Kindergeldes und die Einspruchsentscheidung sind aufzuheben. Der Abzweigungsbescheid und die Einspruchsentscheidung sind mangels Ermessensausübung entsprechend dem Zweck des § 74 Abs. 1 EStG (§ 5 AO 1977) rechtswidrig.

Im pflichtgemäßen Ermessen der Familienkasse liegt nicht nur die Entscheidung über die Abzweigung des Kindergeldes dem Grunde nach, sondern auch die Entscheidung über die Höhe des abzuzweigenden Kindergeldes (Felix in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG, § 74 Rdnr. B 24). Hinsichtlich der Höhe des abzuzweigenden Kindergeldes hat die Familienkasse ihr Ermessen nicht ausgeübt (sog. Ermessensnichtgebrauch). Die Familienkasse hat weder im Bescheid über die Abzweigung des Kindergeldes noch in der Einspruchsentscheidung Ermessenserwägungen zur Höhe des abzuzweigenden Kindergeldes angestellt. Nach den tatsächlichen Feststellungen des FG wurde der Ermessensfehler auch nicht im finanzgerichtlichen Verfahren nach § 102 Satz 2 FGO geheilt. Beim Erlass eines erneuten Abzweigungsbescheids wäre es nach Auffassung des Senats nicht ermessensfehlerhaft, den vom Kläger geleisteten Betreuungsunterhalt --ohne detaillierte Bewertung der Unterhaltsaufwendungen-- pauschal zu berücksichtigen und nur die Hälfte des Kindergeldes an den Sozialhilfeträger abzuzweigen (vgl. zur Aufteilung auch BFH-Urteile vom 17. Februar 2004 VIII R 58/03, BFHE 206, 1, BStBl II 2006, 130, und vom 17. November 2004 VIII R 30/04, BFH/NV 2005, 692).

 

Fundstellen

Haufe-Index 1538918

BFH/NV 2006, 1575

BStBl II 2008, 753

BFHE 2007, 481

BFHE 212, 481

BB 2006, 1616

DB 2006, 1536

DStRE 2006, 1209

DStZ 2006, 534

HFR 2006, 887

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